31 März 2022

Schummeriges Weihnachten

Aus der Serie »Ein Bild und seine Geschichten«

Im Dezember 2011 hatten meine Kolleginnen eine tolle Idee: Wir machten unsere redaktionsinterne Weihnachtsfeier in Karlsruhe. Nach einem extrem anstrengenden Jahr, das uns sehr gefordert hatte – ich erreichte zwischendurch die 100-Stunden-Arbeitswoche –, hatten wir uns das auch vedient.

Also gingen wir in Karlsruhe zuerst lecker essen und später zum Trinken in einen Irish Pub in der Innenstadt. Es war das erste und das letzte Mal, das ich mich dort aufhielt. Nicht weil das Bier schlecht gewesen wäre oder meine Gesellschaft unsympathisch – es ergab sich einfach nicht mehr.

Es war auf jeden Fall das letzte Mal, dass ich in einer sogenannten Raucherkneipe war. Die Luft hing voller Rauch, überall saßen Leute, die qualmten. Das war in den 80er- und 90er-Jahren derart normal, dass es mir nicht einmal aufgefallen wäre. 

1981 oder 1991 fand ich das normal, 2011 bereitete es mir Unbehagen. Heute würde ich mich weigern, eine solche Kneipe zu betreten. So ändern sich die Zeiten.

Die Stockyard Stoics und ihr Widerstand

Es gibt Punkrock-Bands, die machen einfach guten Sound, man kennt sie aber kaum, weil sie aus der Masse zu wenig herausstechen. Dazu zählen die Stockyard Stoics, von denen ich tatsächlich zwei »große« Tonträger besitze. Die Band, deren Sänger eine charakteristisch-rauhe Stimme hat, existierte über ein Dutzend Jahre hinweg, war aber nie so präsent, dass sie einem sofort einfallen würde. Keine Ahnung, ob es die Band noch gibt.

Ich habe dieser Tage ihre LP »Resistance« mal wieder genauer angehört. Die wurde zu Weihnachten 2000 und Ostern 2001 aufgenommen, in Arizona und New Jersey, und kam hierzulande in einer Auflage von gerade mal 500 Exemplaren heraus. Das spricht dann ja auch Bände ...

Musikalisch gibt's konventionellen Punkrock mit leichten Offbeat-Anleihen und guten Melodien; die Band klingt eher nach dem modernen Streepunk, wie er seit den 90er-Jahren aus den USA kommt, ist sauber produziert und wirkt dennoch authentisch-rotzig. In ihren Stücken bezieht die Band zu gesellschaftlichen Problemen klare Stellung, singt über die Lieder in ihren Köpfen oder schimpft auf die amerikanischen Politik – alles in allem ziemlich klasse gemacht.

Ich glaube, ich weiß, warum die Band bislang nicht so bekannt geworden ist: Auch nach dem dritten und vierten Anhören der Platte blieb kein Stück im Ohr. Das ist alles gut, das überzeugt alles, aber der große »Boah ey«-Effekt fehlt dann doch. Egal: bleibt's halt mein Geheimtipp ...

30 März 2022

Luxusprobleme eines Redakteurs

Als ich anfing, Fanzines zu machen und für sie tätig zu werden, hob ich von jedem Fanzine, das ich erstellte und für das ich schrieb, ein Exemplar auf. Daraus entwickelte sich eine Sammelwut, die in vielen tausend Fanzines gipfelte, bei denen ich seit langem den Überblick verloren habe.

Als ich anfing, für die Tageszeitung zu schreiben, hob meine Mutter die Zeitungsartikel auf, die sie ausschnitt und in einem Ordner sammelte. Dieser schien irgendwann verloren gegangen zu sein, so dass aus den 80er-Jahren gar nicht so viel von meiner Zeit als Lokaljournalist übrig geblieben ist.

Aus meiner Zeit als Werbetexter, Redakteur in einer Agentur und freier Texter für alles mögliche, das man bedrucken konnte, habe ich nur wenig aufgehoben. Das meiste waren Gebrauchstexte, die mir nicht so wichtig vorkamen – wer würde sich heute noch für einen Artikel über einen Fußballspieler oder eine Tennisspielerin interessieren?

Aber als ich Redakteur einer Science-Fiction-Serie wurde, nahm ich mir vor, alles aufzuheben, was ich redaktionell betreuen würde. Ich ging davon aus, dass ich diesen Beruf sowieso nicht lange ausüben würde; man würde mich bald wegen meines Auftretens oder meiner dämlichen Sprüche entlassen.

Das ist jetzt bald dreißig Jahre her, und ich habe ein Platzproblem. Ich bin redaktionell mittlerweile für mehr als 1600 Heftromane verantwortlich, für – buchstäblich – Hunderte von Büchern und Taschenbüchern. Dabei ignoriere ich Nachauflagen und Sonderausgaben komplett. Aber …

In diesen Tagen stehe ich vor harten Entscheidungen: Es muss ausgemistet werden. Brauche ich wirklich »Das große Buch der SOL« in meiner Sammlung? (Die Antwort ist klar: ja!) Brauche ich wirklich die komplette »Elfenzeit«-Serie? (Die Antwort ist auch hier: ja!) Und so geht es weiter und weiter und weiter. 

Es sind sehr harte Entscheidungen zu treffen, und mein kleines Herz blutet sehr dabei. Aber klar – das sind echte Luxusprobleme und sonst gar nichts.

Der erste Montalbano-Fall

Im Verlauf der Jahre habe ich einige der Romane gelesen, in denen der italienische Autor Andrea Camilleri von seinem Commissario Montalbano erzählt. Mir gefiel stets die Mixtur aus lockerer Sprache und ernsthaften Themen. Deshalb war ich ausgesprochen interessiert daran, endlich den ersten Fall zu lesen – er heißt »Die Form des Wassers«.

Verstörend finde ich ja schon, wie die Montalbano-Krimis mittlerweile vermarktet werden. »Sizilianisches Flair im Sommerglanz« und andere schöne Sätze finden sich auf dem Rückentext, die ganze Neugestaltung im Taschenbuch ist luftig und fröhlich. Der Verlag scheint sich an die Optik der populären »Urlaubskrimis« annähern zu wollen, die in schönen Gegenden des nahen Auslands spielen und häufig von deutschsprachigen Autorinnen und Autoren unter Pseudonym geschrieben werden.

Das ist einem Montalbano-Krimi nicht angemessen. Schon im ersten Fall der Serie werden bestialische Morde der Mafia erwähnt – immerhin nicht geschildert –, die klar zeigen, wie hart die Arbeit eines Polizisten in Sizilien ist. Klar ist Montalbano auch den schönen Frauen, dem guten Wein und dem leckeren Essen zugeneigt, aber er hat nun mal fiese Morde aufzuklären.

In diesem Fall geht es um einen in der Region sehr bekannten Mann, der ausgerechnet an einem Straßenstrich tot aufgefunden wird. Offensichtlich ist er beim Sex mit einer Prostiuierten eines natürlichen Todes gestorben. Montalbano ermittelt trotzdem, findet allerlei neue Dinge heraus und erkennt, dass viel mehr hinter diesem Tod steht.

Politische Intrigen, die Machenschaften der Mafia, Sex und Gewalt – sie alle vereinen sich zu einem Knäuel, das Andrea Camilleri schon in seinem ersten Montalbano-Roman sehr treffsicher und spannend schildert. Das spielt zwar alles unter der heißen Sonne Siziliens, hat aber nicht viel mit der Romantik eines Urlaubskrimis zu tun.

Nun ja … wenn’s durch die neue Vermarktung auch neue Leser findet … Der Roman ist auf jeden Fall gut und lohnt sich.

29 März 2022

Wolkentaucher

Ich stand auf einem Berg, den ich kurz zuvor erklommen hatte, und atmete tief durch. Über mir schien die Sonne, zu meinen Füßen erstreckte sich ein Wolkenmeer aus weichem wattigem Weiß, aus dem sich Türme und Pyramiden, sanfte Hügel und schroffe Felszinnen aus Wolken erhoben.

Auf einmal schwang sich ein Mann aus diesen Wolken. Er hing in einem Gestell, ähnlich dem von Drachenfliegern, wurde nicht von einem Motor angetrieben, sondern ließ sich von einer Kraft, deren Quelle ich nicht erkannte, über die Wolken hinaus treiben, überquerte das weiße Meer in einem endlos erscheinenden Gleiten, elegant und gelassen, in einer Abfolge von Kurven und Schleifen, die mir zeigten, wie sehr ihn sein Flug erfreute.

Er war zu weit entfernt, als dass ich ihm hätte etwas zurufen können. So betrachtete ich sein Gleiten und Schweben mit Staunen, sah zu, wie er näherkam und sich wieder von mir entfernte, wie er seine Kapriolen drehte.

Und erst nach einiger Zeit bemerkte ich, dass ihm Tiere folgten. Waren es Vögel? Ich sah die flatternden Flügel, die im Sonnenlicht fast durchscheinend wirkten und von mir deshalb kaum wahrgenommen werden konnten, ich erkannte die Bewegungen, und ich musste mich konzentrieren, um einen klaren Blick zu erhalten.

Dann stellte ich fest, dass es keine Vögel waren, sondern Schmetterlinge. Sie hatten große gelbe Flügel, auf jeder Seite des langgestreckten Körpers von den Ausmaßen einer Männerhand, und mit diesen flatterten sie in einem Rhythmus, der mir hektisch und gleichmäßig zugleich vorkam. Sie folgten dem Mann in seinem fliegenden Gefährt, sie umschwärmten ihn, kreisten über und unter ihm, ein Pulk aus flatterndem Gelb.

Der Mann tauchte, nachdem er eine große Runde geflogen war, wieder in die Wolkendecke ein und verschwand. Es war, als sei das Schauspiel vorüber, das er mir geboten hatte. Und da wachte ich auf.

Eine Kleinstadt namens Greenfalls

Ich habe dieser Tage endlich den zweiten Band der »XIII«-Gesamtausgabe gelesen. Die Thriller-Comics aus den 80er-Jahren, die in diesem Band veröffentlicht worden sind, haben mich erneut gefesselt – wie beim ersten Mal, obwohl mich manche Überraschung natürlich nicht mehr überraschen konnte.

Tatsächlich fand ich die zwei Geschichten am besten, die innerhalb dieses Buches eine Art Doppelband bilden: Sie spielen in einer kleinen Stadt namens Greenfalls, die irgendwo in den Rocky Mountains liegt und in der es ordentlich schneit. Der Held der Comic-Serie, der nach wie vor nicht weiß, wer er eigentlich ist, versucht dort, hinter das Rätsel seiner Herkunft zu kommen.

Dabei stößt er auf Menschen, die sich an ihn erinnern, sowie auf Menschen, die ihn am liebsten umbringen möchten. Vor allem aber geben die zwei Geschichten einen Einblick in eine Kleinstadt, in der viele Leute offenbar ihre kleinen Geheimnisse haben, die sie vor einander verbergen möchten. Das ist spannend erzählt und toll gezeichnet.

Klar, bei einer Serie wie »XIII«, die alle möglichen Preise kassiert hat, erwarte ich nichts anderes. Wie Jean van Hamme als Autor und William Vance als Zeichner die Kleinstadt in Szene setzen, das war schon damals großartig und fasziniert mich heute noch.

Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die Details eingehen. Wer die Serie kennt – und die meisten Comic-Fans dürften zu dieser Gruppe gehören –, weiß um ihre Qualitäten. Wer sie nicht kennt, dem empfehle ich sie jederzeit. Die Gesamtausgabe ist schön gestaltet, die redaktionellen Anmerkungen sind lesenswert und ufern nicht zu sehr aus.

Absolut lohnenswert!

28 März 2022

Gute Vorsätze im März

Eigentlich klang es ja ganz gut: Ich feiere im März die letzten fünf Tage Resturlaub ab, und in dieser Zeit räume ich nicht nur mein Arbeitszimmer auf, sondern schreibe auch mindestens eine Science-Fiction-Erzählung, vielleicht sogar zwei Geschichten. Von einem Romanprojekt rede ich schon gar nicht mehr, soviel Rationalität ist mittlerweile eingekehrt.

Aber offensichtlich bin ich in einem Ausmaß phantastisch unterwegs, dass es nicht mal mehr dazu reicht, die Tage  halbwegs vernünftig zu planen. Der Urlaub ist Stand heute abend zur Hälfte vorüber, wenn man das Wochenende mitzählt, und es sind noch drei Tage geblieben.

Ich habe keine Zeile Text geschrieben – sieht man von Dingen ab, die für die Firma waren –, und ich habe noch nichts aufgeräumt. Es sieht immer noch alles sehr chaotisch aus. Was ich in in den vergangenen Tagen gemacht habe? Ich aß Eis, ich fuhr Fahrrad, ich schlief lang, und ich las privat – also kein Buch, das ich lesen musste oder sollte, kein Manuskript, kein Exposé.

Aber vielleicht muss das einfach so sein, wenn man Science-Fiction-Gelegenheitsautor ist ...

26 März 2022

Ein Ort toller Konzerte

Aus der Serie »Ein Bild und seine Geschichte«

Ich mochte das »P 8« in der Nordstadt sehr: In den Räumlichkeiten besuchte ich immer wieder gern Punkrock- und Hardcore-Konzerte, trank mein Bier und hatte einmal sogar eine Lesung darin. Häufig sehr krachige, manchmal auch melodische Musik, meist sehr angenehmes Publikum und eine sehr lockere Umgebung: Niemand störte sich daran, wenn im Freien ein Lagerfeuer brannte – die nächsten bewohnten Häuser befanden sich in einer ordentlichen Entfernung.

Mein letztes Konzert im »P 8« besuchte ich Ende 2019. In den Pandemie-Monaten gab es immer wieder Veranstaltungen dort, die ich aber mied. Und so war ich auch bei der Abschiedsveranstaltung nicht dabei. Das »P 8« in der jetzigen Form ist nämlich Geschichte.

Das Bild zeigt das Gelände, auf dem sich das die Gebäude befanden, zu denen das »P 8«, allerlei Werkstätten, eine Freie Schule und auch eine eher seltsame Kneipe, bei der laute Schlagermusik lief, gehörten. Sie wurden mittlerweile alle abgerissen, auf dem Gelände sollen Wohnblocks entstehen. Ich kann nur hoffen, dass es auch Wohnungen für Normalverdiener geben wird, nicht nur Luxuspaläste.

Das Gelände sieht derzeit traurig aus. In der Luft hängt die Erinnerung an krachige Konzerte. Und ich freue mich sehr, dass die aktiven Leute vom »P 8« in neuen Räumlichkeiten gerade einen neuen Veranstaltungsort aufbauen.

25 März 2022

Ein positiver Alptraum

Ich lese seit vielen Jahren die Zeitschrift »BuchMarkt«, die mit ihrer Mischung aus Hintergrundberichten, Artikeln und Informationen ein wichtiges Medium für die Literatur-Branche ist. Vor einigen Wochen lag der aktuellen Ausgabe wieder einmal eine kleine A6-Broschüre bei, die den schönen Titel »Highlights der unabhängigen Verlage« trägt. Man kann nicht sagen, dass ich sie komplett gelesen habe – aber ich habe sehr intensiv darin geblättert.

Die Broschüre ist ein Alptraum. Einer der positiven Sorte.

Ich lese mich immer wieder fest, wenn ein kleiner Verlag eines seiner sorgsam gemachten und inhaltlich gelungenen Bücher präsentiert. Dann mache ich mir einen Knick in die Seiten oder schreibe mir den Titel gleich heraus, setze ihn auf die Liste der Bücher, die ich unbedingt lesen möchte.

Präsentiert werden sogenannte Independent-Verlage, die auf einer Seite oder zwei Seiten sich selbst und zwei, drei Titel aus ihrem Programm vorstellen können. Dabei sind Verlage, die ich kenne und von denen ich Bücher im Schrank stehen habe: der Verlag Antje Kunstmann etwa oder der Argument-Verlag. Weniger bekannt sind für mich Verlage wie der Leykem-Verlag oder Nachtschatten – der hat übrigens nichts mit dem Horror-Fanzine aus den 80er-Jahren zu tun.

124 Seiten. Vollgepackt mit Informationen und tollen Ideen. Es ist ein positiver Alptraum!

24 März 2022

Das Bärbele aus der Lautermühle

Aus der Serie »Ein Bild und seine Geschichte«

Ich lernte das Bärbele nicht mehr kennen. Die Frau starb, als ich ein kleines Kind war. Mir wurde sie vor allem dadurch immer bewusst, dass wir ihr Grab pflegten. Sie war auf dem Friedhof von Dietersweiler beerdigt worden, meine Eltern hatten ihr Sparbuch geerbt und sollten davon die Grabpflege übernehmen. Das machten sie auch über Jahrzehnte hinweg.

Das Bärbele war eine Tante oder Großtante meines Vaters. Die alte Dame wohnte in der Lautermühle, einem Weiler unweit des Dorfes. Die Lautermühle war für uns Dorfkinder ein geheimnisvoller Ort: Es gab eine Mühle, es gab Landwirtschaft, es gab Bäche und vor allem viel Wald. Da sie auf der anderen Seite des Dorfes lag, war sie nicht unbedingt mein Revier.

Mein Vater hatte als Kind viel Zeit in der Lautermühle verbracht. Daher war er mit der Mühle und dem Bärbele verbunden. Er mochte die alte Frau sehr.

Das Bild stammt aus dem Jahr 1965. Es zeigt das Bärbele in der Mitte, meinen Vater und eine mir unbekannte Frau. Ganz im Hintergrund sieht man eine Frau mit weißer Handtasche; das könnte meine Mutter sein. 

Sieht man sich die Kleidung an, war man damals bei einem Sonntagmittagsbesuch: Die Damen tragen ihr Kostüm und eine Handtasche, mein Vater geht im Anzug spazieren. Nur das Bärbele trägt die einfache Kleidung einer Bäuerin, inklusive eines Kopftuches.

Jugendliche und gesellschaftliche Beteiligung

Als Jugendlicher und junger Erwachsener fühlte ich mich häufig nicht so richtig ernst genommen. Erwachsene bestimmten über meine Freiräume, wir mussten um unser Jugendzentrum kämpfen, und Aktivitäten junger Leute wurden häufig nicht gewertschätzt. Das scheint auch heute nicht sonderlich anders zu sein …

Bereits im September 2019 erschien das Sachbuch »Nichts als Freiraum«, in dem es genau um solche Themen ging, im Hirnkost-Verlag. Das Sachbuch richtet sich nicht unbedingt an Leute wie mich, sondern eher an Pädagogen, also an Erzieher_innen und Lehrer_innen. Denen würde es sicher nicht schaden, mehr darüber zu erfahren, wie junge Leute ticken.

Anna Maria Michel stellt in ihrem schmalen Buch unter anderem Beispiele über Jugendprojekte zu einer weiteren Diskussion. Sie will dazu ermuntern, dass man junge Leute ernst nimmt, dass man sie in Projekte einbindet und sie vor allem eigene Projekte umsetzen lässt. Dazu gibt sie in ihrem Buch einige Beispiele, sowohl abschreckende als auch positive.

Mir scheint das durchaus lesenswert zu sein. Klar bin ich nicht die Zielgruppe für das Buch, wie ich bei mancher Formulierung gemerkt habe. Es richtet sich an die Gestalter in den Kommunen und Landkreisen, und seine Botschaft ist eigentlich positiv. Es wäre ja schön, wenn die Autorin damit erfolgreich sein könnte …

23 März 2022

Bedingt bereite Truppen

Wir lernten uns »bei einem Bier« kennen, abends recht spät. Es stellte sich heraus, dass wir beide gleich alt waren. Okay, er war im Jahr 1964 geboren, ich war Jahrgang 1963. Aber letztlich trennten uns keine hundert Tage.

Uns trennte jahrzehntelang etwas anderes: die Mauer. Er war in der DDR aufgewachsen, ich in der BRD (»BRD« sagten in den 80er-Jahren allerdings nur »linke Zecken«). Und wie es sich herausstellte, waren wir zur gleichen Zeit als wehrpflichtige Jungmänner in Uniformen unterwegs: er bei der NVA, ich bei der Bundeswehr. Beide 1984/85.

Ab diesem Moment gab es kein Halten mehr. Wir erzählten uns, immer wieder von viel Gelächter unterbrochen, Geschichten aus unserer jeweiligen Armeezeit. Es gab letztlich keine großen Unterschiede.

Als ich ihm erzählte, wir hätten ernsthaft Angst vor einem russischen Angriff gehabt, lachte er mich aus. Die NVA sowie die russischen Truppen seien wahrscheinlich gerade mal über die Grenze gekommen, und spätestens im hessischen oder fränkischen Hügelland seien ihre Panzer liegen geblieben.

Ich berichtete von unserer miesen Ausrüstung: »Wir würden unser erstes Stempelkissen verlieren, wenn wir die Kaserne verlassen, und wir kämen ohne Waffen und Gerät im Bereitstellungsraum an.« Er glaubte mir nicht.

Es war ein langer Abend, und wir tranken so manches Bier. Wir waren uns am Ende in vielen Punkten einig. Wir waren verdammt froh darüber, dass wir nie hatten die Waffen nehmen und auf andere Leute schießen müssen.

Und dass unsere jeweiligen Armeen nur »bedingt« angriffs- oder verteidigungsbereit waren …

Feine Deutsche Art waren cool

Ich sah die Band Feine Deutsche Art aus Düsseldorf nie, aber ihre Musik hörte ich oft. In den 80er-Jahren kaufte ich mir ihre Kassette – wahrscheinlich bei »Euer Geld Ist Unser Geld«, dem Kassettenvertrieb aus Münster –, die ich so oft anhörte, bis sie ausgeleiert war. Und so freute ich mich sehr, als 1991 eine EP veröffentlicht wurde, auf der alle vier Stücke enthalten sind. Ich hörte sie mir jüngst wieder an und fand sie immer noch gut.

Die Band spielte Deutschpunk, aber er hatte wenig zu tun mit dem Sound, der zu jener Zeit üblich war. Man war durchaus melodisch, aber weit entfernt von poppigen Klängen. Man klang schroff, aber selten so abgehackt, wie das viele Deutschpunk-Bands machten.

Ich mag das heute noch. Die Stimme des Sängers klingt immer ein wenig atemlos. Die knappen Texte schleudert er geradezu hinaus, dazu schrammeln die Gitarre, wummert der Bass und klopft das Schlagzeug, alles in einem atemlosen Rhythmus, der sich anfühlt, als gehe einem die Zeit.

Ausdrucksstark sind die Texte, die ein wenig kryptisch sind, die sich einer klaren Aussage verweigern. Man singt nicht über den Atomkrieg, nicht über den Staat, den man als Punk zu bekämpfen hat, sondern über Themen, die aus dem eigenen Kopf kommen.

»Ich laufe durch die Straße, mit der Waffe in der Hand«, heißt es in dem Stück »Einzelkämpfer«. »Ich laufe durch die Straße, meine Ohnmacht ist verschwunden.« Was wie eine Aufforderung zu sinnloser Gewalt klingt, ist offenbar überhöht zu verstehen. »Die Kälte dieser Welt / gegen meinen Lebenswillen« wird als Grund für vieles genannt.

Und dann gibt es einen Refrain, der den negativen Ton des Stücks fast ins Gegenteil verkehrt. Dieser Satz wird mehrfach wiederholt, in einem fast schon stoischen Ausbruch. »Glaub bloß nicht, es ist zu spät, glaub bloß nicht, dass nichts mehr geht.«

Oder das Stück »Revolution«, in dem es nicht vom Krieg in den Straßen oder vom Bau revolutionärer Barrikaden geht. Eine typische Textzeile: »Wir brauchen neue Helden, wir brauchen neuen Zeiten, wir brauchen Mut zur Zukunft, wir müssen Vergangenes vergessen« – das ist untypisch für das Jahr 1983, in dem die Band diese Stücke aufnahm. »Revolution – wir machen eine neue Zeit« wird dann auch mehrfach erwähnt; der Slogan lädt wegen der schlichten Melodie und der klaren Zeile zum Mitschreien und Mitsingen ein.

Ich mag die schlichte Lyrik und die schlichte Musik der Band nach wie vor. Sie sind Beleg dafür, dass Schlichtheit oftmals etwas Gutes und Starkes ist. Deutschpunk von 1983 halt!

22 März 2022

Spannende Comic-Mixtur aus Historie und Phantastik

Die Eroberung Mexikos durch die spanischen Konquistadoren bildet den Hintergrund für ein abenteuerliches Comic-Epos, das in vier Bänden veröffentlicht wurde. Dabei hält es die Balance zwischen Geschichte und Phantastik, bietet eine spannende Geschichte und überzeugt durch eindrucksvolle Bilder. Ich meine damit die Serie »Conquistador«, die der Splitter-Verlag in den deutschsprachigen Comic-Markt gebracht hat.

Die Geschichte spielt 1520. Die spanischen Eroberer unter Hernán Cortés haben es längst in die Hauptstadt des Azteken-Reihes geschafft. Noch betrachtet sie Moctezuma, der Herrscher, als Götter, noch können sie ihren großen Bluff aufrecht erhalten. Und während Cortés versucht, zwischen den Azteken und einer Strafexpedition aus Spanien zu lavieren, erhält eine kleine Truppe aus Soldaten, einer jungen Frau und einem Mönch einen Geheimauftrag: Sie sollen einen sagenhaften Schatz rauben, mit dem Cortés dann die spanische Krone von sich überzeugen kann.

Jean Dufaux, der seit vielen Jahren als Comic-Autor eine Serie nach der anderen schreibt, erzählt in »Conquistador« eine spannende Geschichte. Sie beginnt wie ein historischer Comic, geht dann aber immer deutlich in phantastische Gefilde über. Die Spanier haben durch ihr Vordringen nämlich uralte Mächte geweckt, und diese setzen sich nun auf die Spur der kleinen Truppe, die das Gold stehlen soll.

Dufaux ist ein Routinier, er spart nicht an knalligen Effekten: Es gibt brutale Kämpfe, Menschen werden gefoltert – wobei man dankenswerterweise keine Details sieht – oder von monströsen Wesen umgebracht. Die Dialoge sind klar, die Figuren handeln glaubhaft.

Mit einer seriösen Geschichtsstunde hat das allerdings wenig zu tun: Weder dürften die verschiedenen Volksstämme, die sich mit den Spaniern gegen die Azteken verbündet haben, so primitiv gewesen sein, noch kann ich mir vorstellen, dass bei den Azteken ein spanischstämmiger Prediger mitmischte … Aber gut, das sind die Freiheiten eines Autors, der sich schließlich auch angreifende Monster und lebendige Götter ausdenken darf.

Ernsthaft: Die Geschichte in den vier Bänden ist spannend erzählt und in starke Bilder umgesetzt worden. Philippe Xavier erweckt den Dschungel ebenso zum Leben wie die monströsen Gegner der Spanier oder die fies aussehenden Indianerkrieger, die unvermittelt angreifen. In der Härte der Darstellung ist das weit weg von früheren Abenteuer-Comics, da spritzt eben doch mal das Blut über die halbe Seite hinweg. Aber klar: Das ist realitätsnah und entspricht den heutigen Sehgewohnheiten.

Die vier Bände von »Conquistador« sind teilweise rabiat, sind aber stark gezeichnet und spannend erzählt. Die Geschichte ist nicht schreiend originell, aber einfach gut gemacht. (Ich empfehle, die Leseprobe auf der Splitter-Verlagsseite im Netz anzuschauen.)

21 März 2022

Ein Text voller Vorurteile

Dies ist, um es gleich loszuwerden, ein Text, der auf Vorurteilen basiert und in dem es darum geht, Vorurteile zu benennen. Er ist nicht objektiv und versucht es auch nicht einmal ansatzweise. Es geht um Literatur, konkret: um Literatur, die ich nicht lesen mag.

Ich stöbere gern in Buchhandlungen, ich lese Rezensionen. Steht bei einem Autor oder einer Autorin dabei, dieser habe im Literaturinstitut soundso studiert, lege ich das Buch gleich weg. Ich weiß – und ich weiß, dass das ein Vorurteil ist –, dass dieser Mensch nichts schreiben kann, was mich auch nur andeutungsweise interessiert.

Leute, die in diesen Literaturinstituten studieren, haben normalerweise nach der Schule irgendwas studiert, bevor sie an dieses Institut gegangen sind. Stolz berichten sie von ihren Auslandserfahrungen – man hat ja auch ein Auslandssemester absolviert, bezahlt von den Eltern oder vom Steuerzahler – oder von ihren beruflichen Erfahrungen, gerne mal für sechs Wochen in den Schulferien irgendwo »beim Daimler am Band«.

Damit ihre Biografie nicht gar so langweilig klingt, wie sie nun einmal ist, wenn man sein Leben in behüteteten Zusammenhängen verbracht hat, verweisen sie gern auf ihre »Zeit als Punk« (auch mal bunte Haare gehabt und bei zwei Tote-Hosen-Konzerten gewesen) oder auch die »Zeit als Skinhead« (ein bisschen Ausländerfeindlichkeit, die man natürlich überwunden hat, macht sich gut in der Biografie, weil sie die Journalisten so schön das Gruseln lehrt). Vielleicht hat man sogar mal in einer Band gespielt.

Ansonsten hat man studiert, studiert und studiert. Danach lebt man von Stipendien – die das »einfache Volk« von seinen Steuern bezahlt – oder hangelt sich von Preis zu Preis, den Verkäuferinnen, Krankenpfleger oder Putzkräfte von ihrem Gehalt bezahlen, die man dann öffentlich für ihren schlechten Fernsehgeschmack oder ihre Freude an fleischhaltigem Essen öffentlich angreifen kann.

Wie gesagt: Dies ist ein Text über (und voller) Vorurteile. Aber ich mag trotzdem keine Bücher von Leuten lesen, die einen »Abschluss am Literaturinstitut« hinter sich haben ...

18 März 2022

Der Unheimliche von Dartmoor

Immer wieder schaffen es inhaftierte Straftäter, aus dem angeblich sicheren Gefängnis von Dartmoor zu entkommen. Zur gleichen Zeit glaubt die Ehefrau eines der Wächter, einen Geist zu sehen, der mit ihr spricht. Das alles ist ganz offensichtlich ein Fall für John Sinclair, einen jungen Inspektor bei Scotland Yard. Sein Chef schickt ihn nach Dartmoor …

»Der Unheimliche von Dartmoor« ist als Teil 13 der »John Sinclair Sonderedition« erschienen: zwei Hörspiel-CDs in einer schönen Box, die sich auch im Regal eines Sammlers sicher gut macht. Es handelt sich um eine Geschichte, die in sich abgeschlossen und außerhalb der Chronologie der anderen Hörspiele angesiedelt ist: deutlich vor der eigentlichen Karriere John Sinclairs als Geisterjäger.

Das schadet der Geschichte nicht, ganz im Gegenteil. Sinclair muss sich als Gefangener nach Dartmoor begeben. Sein Inspektor gibt ihm den Decknamen »Brubaker«, was an den klassischen Gefängnisfilm mit Robert Redford erinnert – an diesem erinnert sich manche Szene des Hörspiels. Sinclair bekommt als Gefangener viel vom Innenleben der Strafanstalt mit, sadistische Wärter und gemeingefährliche Häftlinge inklusive.

Das ist sprachlich teilweise heftig. Schimpfwörter, Kraftausdrücke, derbe Gewalt – aber praktisch keine Monster, Vampire und sonstige Gruselwesen. Die wahren Bösewichte sind Menschen, und sie verhalten sich menschlich-gemein. Natürlich werden alle Klischees abgefeiert, die man sich bei so einer Strafanstalt vorstellt – aber das ist unterhaltsam gemacht und dicht erzählt.

Wer ein spannendes Krimi-Hörspiel mit knalligen Geräuschen und einem leichten Anflug von Horror mag, kommt hier auf seine Kosten. »Der Unheimliche von Dartmoor« ist die Umsetzung eines schon etwas betagten Heftromans, aber so gut gemacht, dass man sich das heute gern und gut anhören kann.

Das ist ein wenig trashig, aber das stört nicht. Ein sehr gelungenes Hörspiel in zwei CDs (oder natürlich im Download).

17 März 2022

Die eigene Zündapp

In den frühen fünfziger Jahren konnte sich ein einfacher Handwerker kein Auto leisten. Mein Vater hatte, nachdem er aus der Gefangenschaft zurückgekommen war, immerhin recht bald eine Arbeitsstelle gefunden: nicht in Dietersweiler, dem Heimatdorf, nicht in Freudenstadt, der Kreisstadt, sondern in einem benachbarten Landkreis. Dorthin musste er irgendwie kommen.

Also kaufte er sich ein kleines Motorrad, eine Zündapp-Maschine. Mit dieser fuhr er zur Arbeit, mit dieser besuchte er später meine Mutter, als er dieser den Hof machte. Die beiden fuhren mit diesem kleinen Motorrad sogar in Urlaub.

Von wann genau das Bild stammt, das ich an dieser Stelle zeige, ist leider nicht bekannt. Es muss in den frühen fünfziger Jahren gewesen sein, zwischen 1952 und 1955.

»Auf der Stuttgarter Straße«, schrieb meine Mutter auf die Rückseite, »Emil mit seinem Zündapp.« Die Stuttgarter Straße war und ist die Bundesstraße, die aus dem Zentrum von Freudenstadt hinaus in Richtung Dornstetten und – ja! – letztlich in Richtung Stuttgart führt.

Heute ist das eine sehr gut ausgebaute und mehrspurige Straße, rechts und links gesäumt von Einkaufszentren, einem Hochhaus und Firmen. Deshalb ist es heute wirklich schwer, das Bild genauer zuzuordnen – sowohl zeitlich als auch räumlich. Auf dem Foto sieht man im Hintergrund ein Haus, das ich nicht identifizieren kann, ansonsten Sträucher und Streuobstwiesen.

Eine Punkrock-Supergroup zu Beginn der 90er-Jahre

In den 70er-Jahren formierten sich alle Nas‘ lang irgendwelche Supergroups aus bekannten Rockgitarristen. Das Rezept griffen die Punks in Kalifornien anfangs der 90er-Jahre auf: Es bildete sich im Großraum der Bay Area eine Band mit dem hübschen Namen Pinhead Gunpowder. Mit dabei waren der Fanzineschreiber Aaron Cometbus und Billie Joe Armstrong von der damals schon recht beliebten Band Green Day; auch die anderen spielten in diversen Bands, sind heute aber eher unbekannt.

Die Platte »Jump Salty« kam 1994 bei Lookout! Records heraus und enthielt allerlei Beiträge, die vorher bei anderen Labels, auf EPs und Samplern erschienen sind. Es handelt sich also nicht um ein durchgeplantes Album, sondern eine Zusammenstellung. Das hört man, aber das macht nichts.

Geboten wird auf dieser Platte ein ordentlicher Punkrock mit Melodie und Schmackes, nicht so glatt und melodisch wie Green Day beispielsweise, sondern wesentlich kratziger, aber auch nicht so hektisch wie manche Band, in der Aaron Cometbus mitmachte. Die Musiker singen abwechselnd, so dass eine schöne Mixtur entsteht.

Textlich passt das alles: Die Stücke sind zeitkritisch, lassen aber Polit-Parolen weg. Sarkastisch wird der »way of life« in der kalifornischen Stadt Benicia besungen, ein zynischer Blick auf das Arbeitsleben im Allgemeinen darf auch nicht fehlen.

Man merkt, dass die Musiker recht jung und bissig waren. Das hört man auch heute noch heraus. Die Platte ist Punk, und das kann ich mir immer noch anhören.

16 März 2022

Masken in Idstein

Es ging ein strammer Wind in Idstein, er war feucht und kühl. Zwar bewegten sich die Temperaturen noch im Plus-Bereich, aber es fühlte sich unangenehm und klamm an. Wir eilten durch die Straßen der kleinen hessischen Stadt, wollten uns so kurz wie möglich im Freien aufhalten.

Als wir vom Marktplatz aus in die Himmelsgasse einbogen, winkte uns ein Passant zu. Er fuchtelte in der Luft herum, zeigte auf unsere Gesichter und auf ein Schild am Straßenrand. Da bemerkte ich, dass er eine FFP-2-Maske im Gesicht trug.

Was ich dann weiter erkannte: In Idstein gab es sogar Maskenpflicht auf der Straße. Aber nur in einer Straße, nur auf einer Länge von einigen hundert Metern höchstens. Dass Wind ging, interessierte da nicht.

Weil es eine Regel in Corona-Zeiten war und ich grundsätzlich die Maskenpflicht während der Pandemie gut fand, setzte ich mir den Mund-Nasen-Schutz aufs Gesicht. Ich hoffte nur, dass mir die Maske nicht vom Wind vom Gesicht gerissen wurde.

So richtig sinnvoll fand ich das nicht. »Vielleicht herrscht da an Markttagen ein großes Gedränge«, überlegte ich.

Aber der Markt würde doch nicht nur in einer Straße stattfinden, sondern viel eher auf dem eigentlichen Marktplatz. Und beim aktuellen Wind würden eventuelle Aerosole schnell verteilt und unschuldig gemacht werden.

Sicher war ich mir nicht, wie so oft in diesen Corona-Jahren. Ich hielt mich an die Anordnungen, so auch in diesem Fall, fand sie aber nicht immer schlüssig. Und mittlerweile hat man in Idstein diese Regelung auch gekippt …

Schauspiel-Novelle mit wechselnden Bühnen

Ein schmales Buch von John Steinbeck, erschienen 1952 im Humanitas-Verlag in Zürich: »Die wilde Flamme« ist eine sogenannte Schauspiel-Novelle, und ich kannte diesen Begriff nicht einmal, bevor ich das Buch in meinen Händen hielt. Gemeint ist damit – so erläutert es der Autor im Vorwort – ein Schauspiel, das man leicht lesen kann, und eine Novelle, die man durch ein Herauslösen der Dialoge in ein Theaterstück verwandeln kann.

Es handelt sich um ein Vier-Personen-Stück, das auf drei unterschiedlichen Bühnen aufgeführt werden kann: Die erste Bühne ist die eines Zirkuszeltes, in dem die Figuren vorgestellt werden. Im zweiten Teil geht es um eine kleine Farm und die schwer arbeitenden Bauern, die dort leben. Der dritte Akt wiederum spielt an Bord eines Frachters. Die Figuren sind aber immer dieselben, und es ist eine Geschichte, die durch die drei Akte hindurch erzählt wird.

Das klingt jetzt vielleicht verwirrend, ist aber gut zu lesen und dürfte in einem Theaterstück sehr stark wirken. John Steinbeck, der große amerikanische Autor, zeigt einen Mann namens Joe Saul, der mit einer Frau namens Mordeen zusammen ist – in die wiederum ist ein Arbeitskollege namens Victor verliebt. Ein weiterer Mann namens Freund Ed vervollständigt das Ensemble und tritt als Ratgeber auf, während sich die anderen drei in ihren Gefühlen und Konflikten verstricken.

Das klingt einfach und fast klischeehaft, ist aber in der künstlich-künstlerischen Konflikt-Situation stark dargestellt. Als Leser erkenne ich die Struktur eines Theaterstücks, und durch die überhöhte Art der Darstellung erhält die Schauspiel-Novelle einen spannenden Charakter.

Ich las die rund 150 Seiten des schmalen Buches mit großer Faszination und bin sicher, das Werk einmal wieder in die Hand zu nehmen.

15 März 2022

Sonnenschein in grauen Zeiten

Wenn ich in diesen Tagen meine Nase in die Zeitung stecke, einschlägige Seiten im Internet ansteuere oder abends die Nachrichten im Fernsehen angucke, fühle ich mich oft deprimiert und schlapp. Mir geht es da nicht anders als anderen Menschen, und mir ist klar, wie privilegiert ich in meiner aktuellen Situation bin – und da muss ich mich nicht einmal mit dem Schicksal von flüchtenden und ausgebombten Menschen vergleichen.

Ab und zu muss ich mir dann doch ein wenig Luxus gönnen. Es bietet sich für mich in einem solchen Fall an, bei der Patisserie Ludwig in der Innenstadt – oder auch am Bahnhof – von Karlsruhe vorbeizugehen oder zu -radeln. Dort gibt es leckere Kekse und Brote, aber eben auch Törtchen, bei denen es einem die Sprache verschlägt.

Ich kaufe übrigens selten nach dem Namen oder den Inhaltsstoffen, sondern nach der Optik. Da ich keine Nahrungsmittelunverträglichkeit habe und es in solchen Törtchen eher selten Fleisch befindet, kann ich unbesorgt zugreifen. Und dann genieße ich eben, und während ich genieße, rutschen viele fiese Themen wie durch Zauberhand aus meinem Hirn.

Das sei Eskapismus? Ja, das mag sein. Aber lecker ist es halt …

In den schlappen 90er-Jahren

Eine Comic-Serie wie »Rick Master« kann nicht immer auf dem gleichen Niveau laufen, was die Inhalte und die Verkaufszahlen angeht. Das merkte man – so denke ich – irgendwann in den 90er-Jahren. Ich selbst hatte zu der Zeit das Interesse an »Rick Master« völlig verloren und las lieber die alten Geschichten noch einmal.

Sehe ich mir heute den Band 19 der Gesamtausgabe an, in dem drei Alben aus den 90er-Jahren zusammengefasst werden, bekomme ich den Eindruck, dass damals die Zeit an der Serie vorüber gegangen war. Die Macher wussten mit vielen Entwicklungen der 90er-Jahre nichts mehr anzufangen und versuchten, irgendwie mitzuhalten. Das ging zu Lasten der Geschichten. (Lesbar sind sie trotzdem, keine Frage!)

Man wollte das bisherige Schema der Geschichten aufbrechen. Jahrzehntelang war das Erfolgsrezept der Serie, dass Rick Master einen komplizierten Mordfall in einem Band aufklärte. Dazu verschlug es ihn gern in die unterschiedlichsten Regionen in Frankreich und Belgien, seine Freundin und ihr Vater, der Kommissar, spielten immer eine wichtige Rolle. Jeder Fall war in sich abgeschlossen.

Man wollte offenbar in den 90er-Jahren auf Komplexität setzen. Ein schönes Beispiel hierfür ist dann gleich »Die Stunde des Kidnappers«, das sich als eine direkte Fortsetzung zu einer vorherigen Geschichte. Es gibt mehrere Verdächtigte, jeder ist irgendwie ein möglicher Killer; die Motive sind nicht so richtig nachvollziehbar, und aufgelöst wird der Fall eher zufällig.

Bei »Die Hand des Todes« wird die komplizierte Erzählweise noch auf die Spitze getrieben. Die modernen Elemente fallen stark auf: Unter anderem taucht eine junge Frau mit grün gefärbten Haaren auf, die Handlung spielt teilweise auf einer kleinen Insel, die sich zum eigenen Staat ausgerufen hat und die im Prinzip einem reichen Videoverkäufer gehört.

Und »Verbrechen im Internet« als direkte Fortsetzung war seiner Zeit vielleiht auch voraus: Der Comic erschien 1998, da steckte das Internet für Normalbürger noch in seinen Kinderschuhen. Entsprechend hanebüchen ist die Internet-Idee – aber gut, so ist das eben, wenn man versucht, zeitaktuell zu schreiben und zu zeichnen.

Der neunzehnte Band der »Rick Master«-Gesamtausgabe ist sicher nicht schlecht. Die Geschichten sind ja trotzdem unterhaltsam, die Zeichnungen nach wie vor auf hohem Niveau. Aber dass die Serie zu der Zeit ein wenig schwächelte, lässt sich anhand der drei Alben nachvollziehen.

14 März 2022

Die Stadt der Karnickel

»Was macht der Hase da eigentlich?«

»Der baut ein neues Haus. Der ist doch eindeutig dabei, ein Loch zu buddeln und die Metropole auszuweiten.«

»Wahrscheinlich ein Bauerschließungsgebiet am Ortsrand.«

»Sozialer Wohnungsbau oder ein teures Eigentumshaus?«

Wenn uns an diesem Sonntagmittag jemand zugehört hätte, ohne die dazu passenden Bilder zu erhalten, hätte er oder sie sich womöglich sehr gewundert. Wir waren spazieren, und wir genossen das warme Wetter und die Sonne.

(Den Gedanken daran, dass die Altrheinarme in diesem März so wenig Wasser führen wie schon lange nicht mehr, verdrängten wir erfolgreich. Eigentlich bräuchten wir Schneeschmelze und Regen.)

Am Alten Flugplatz kann man stundenlang den Kaninchen zusehen. Sie haben mittlerweile das riesige Gelände in eine echt Karnickelgroßstadt verwandelt. Die Siedlungen scheinen zu wachsen; es sind mehrere Kreise entstanden. Wenn man ein wenig Zeit mitbringt, lernt man die Tiere fast schon kennen.

Wie sie über die Rasenfläche rennen. Wie sie buddeln. Wie sie sich streiten, wie sie aber auch freundlich nebeneinandersitzen und mümmeln. Wie sie aus einem Erdloch krabbeln und sich sorgsam umblicken. Wie sie ganz offensichtlich das Leben im beginnenden Frühjahr genießen.

»Ich möchte ein Eisbär sein«, sang unsereins um 1981. »Ich möchte ein Karnickel sein«, klänge 2022 eigentlich viel positiver.

Bleakness bieten sechs mal Dark-Punk

Drei Männer in schwarzen Klamotten aus Lyon in Frankreich machen einen Sound, der durchaus melodisch ist, aber einen ziemlich düsteren Unterton aufweist: Früher hätte man so etwas wie Bleakness vielleicht sogar als New Wave oder Wave-Punk bezeichnet, heute bezeichnet man die Art von Musik als Dark-Punk. Wie auch immer: Es klingt düster, und es ist gut, vielleicht passt eine solche Musik besser in diese Tage als manch anderes …

Ich höre gerade sehr oft die Langspielplatte »A World To Rebuild« (digital im Büro, Vinyl daheim), die das Trio im Dezember 2020 veröffentlicht hat. Die Platte enthält nur sechs Stücke, die sind aber allesamt recht lang für eine Punk-Band. Allesamt sind sie über drei Minuten lang, eines sogar gut fünf Minuten – und das, ohne langweilig zu sein oder sich in ein Rock-Epos zu verwandeln.

Die Stücke brauchen eine Weile, bis sie ins Ohr gehen. Sie wühlen sich geradezu rein, zäh manchmal, mit einer verschleppten Melodie, die nicht zum Mitsingen einlädt, dazu die Stimme des Sängers, der mehr schreit als zu singen. Manchmal habe ich das Gefühl, die alten Swans zu hören – allerdings schneller und dynamischer –, dann wieder drängen sich Vergleiche zu anderen düsteren Bands der 80er-Jahre auf, und mir wird klar, dass solche Vergleiche stets hinken müssen.

Bleakness ist eine Band, deren Sound ich intensiv finde und deren aktuelle Platte ich mag. Zumindest in diesen Tagen, in denen ich manchmal das Gefühl habe, ich müsste mich im Elend der Welt suhlen …

11 März 2022

Das geheimnisvolle Rey Bouba

Wie immer brachten mich die Hitze und das unaufhörliche Schaukeln des Busses dazu, ein wenig zu dösen. Dabei war die Landschaft schön, und ich erfreute mich immer wieder des Blicks, den ich über das Buschland oder hinein in den Urwald hatte. Als ich wieder dabei war, den Kopf nach vorne kippen zu lassen, stieß mich der Fahrer an.

Ich ruckte hoch. »Was ist?«

Er grinste. »Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich Ihnen sage, wenn es etwas Interessantes gibt?«

Wir waren unterwegs zwischen Nagaoundéré und Garoua, und nach meiner Empfindung hatten wir so langsam die Hälfte der Strecke hinter uns gebracht. Ich saß mit einem anderen Mann, der ständig im Tiefschlaf versackte, neben dem Fahrer und hatte so einen guten Blick auf alles, was sich vor uns abspielte. Und ab und zu hielt der Fahrer, ein breitschultriger Typ mit grauen Schläfen, mir einen kleinen Vortrag in hervorragendem Französisch, von dem ich wegen meiner schlechten Sprachkenntnisse nur die Hälfte verstand.

»Wir kommen gleich an die Stelle, wo die Leute aus Rey Bouba einsteigen«, erläuterte er mir und zeigte geradeaus.

Ich sah nur die Straße, eine gut ausgebaute Piste, die durch einen dichten Wald ging. Rechts und links wucherten Bäume und Büsche in die Höhe, über uns spannte sich ein knallblauer Himmel. »Wo?«, fragte ich. »Und was ist Rey Bouba?«

»Es ist ein geheimnisvoller Ort, weit abgelegen und im Busch. Doch es ist zugleich ein wichtiger Ort.« Er verlangsamte, ohne dass ich erkennen konnte, an was er sich eigentlich orientierte.

Auf einmal stand eine Frau auf der Straße. Sie war hager, und sie trug traditionelle Kleidung; auf der rechten Schulter hatte sie einen Sack. Sie hob die Hand, und der Fahrer bremste ab. Er hielt direkt neben der Frau an.

Weitere Frauen kamen aus dem Wald. Ich erkannte weder, wo ein Weg anfing, noch eine Stelle, an der man erkennen konnte, dass hier so etwas wie eine Bushaltestelle war.

»Rey Bouba ist eine alte Residenzstadt«, sagte der Fahrer. »Man kommt nicht mit dem Bus dorthin, und die Straßen sind extrem schlecht. Früher war Rey Bouba richtig wichtig, heute ist es sehr abgelegen und geheimnisvoll; kein Europäer reist dahin.«

Während er ausstieg, um das Gepäck zu verstauen, dass die Frauen mit sich führten, fischte ich den Reiseführer aus meinem kleinen Rucksack, den ich auf dem Schoß hatte. Der schwere Seesack lag auf dem Dach des Busses, gut verstaut zwischen den Transportgegenständen meiner Mitreisenden.

Laut den Angaben des Reiseführers war die Siedlung gut hundert Kilometer von der Hauptstraße weg, und es gab keinen öffentlichen Verkehr, der dorthin führte. Die Frauen hatten also hundert Kilometer durchs Buschland zurückgelegt, um nun mit dem Bus weiterfahren zu können.

Ich verstaute den Reiseführer wieder im Rucksack und sah zu, wie das Gepäck verladen wurde. Nur zwei Frauen fuhren mit, sie quetschten sich in den ziemlich vollen Bus und fanden tatsächlich noch einen Platz. Die anderen blieben am Straßenrand stehen. Gesprochen wurde kein Wort, man verständigte sich offenbar wortlos.

Der Fahrer kam wieder zu seiner Seite und klopfte aufs Dach seines Busses. »En dilla«, befahl er, der Begriff in Fulfulbe, den ich mittlerweile als sehr wichtig empfand und den man beim Busfahren im nördlichen Kamerun einfach kennen musste.

Er grinste mich an. »Geheimnisvoll«, sagte er. Er startete seinen Bus und ließ ihn langsam rollen.

Als ich zur Seite blickte, waren die anderen Frauen nicht mehr zu sehen. Sie waren zwischen den Bäumen und Büschen verschwunden, als hätte es sie nicht gegeben. Und wieder erkannte ich keine Markierung, die darauf hingewiesen hätte, dass es hier einen Haltepunkt für Busse gab.

Geheimnisvoll, dachte ich und setzte mich aufrecht hin. Es gab noch genügend zu sehen im nördlichen Kamerun in diesem November 1999.

10 März 2022

Hessen für Berlin

In der Mitte der 90er-Jahre hatte eine Gruppe von Science-Fiction-Fans eine große Idee: Das wiedervereinigte Deutschland sollte endlich auch auf der Weltkarte der Science-Fiction-Fans die Rolle spielen, die ihm gebührte. Also traf man sich in Berlin und beschloss, die neue Hauptstadt des gesamtdeutschen Staates zum Schauplatz eines Science-Fiction-WorldCons zu machen. In der Vorbereitung mangelte es nicht an Aussagen, die mehr von überzogenen Erwartungen und weniger von Sachkenntnis zeugten.

Das wiederum war der Ausgangspunkt für eine satirisch gemeinte Veranstaltung. Der ColoniaCon 13 fand im Frühsommer 1996 im Jugendpark in Köln statt, wie immer vor allem ein Treffen der »fannischen« Fans. Hermann Ritter hatte die Idee, Günther Freunek und ich machten begeistert mit: Und so veranstalteten wir einen Abend unter dem Motto »Hessen für Berlin«.

Günther dekorierte den Veranstaltungsraum mit Plakaten und Girlanden, es sah nach einer Mischung aus Fasching und fannischem Blödsinn auf. Hermann stand auf der Bühne und redete. Ich ging durch die Reihen – in Anzug und Krawatte, immer eifrig buckelnd und dienernd – und schenkte den Conbesuchern unter anderem Äppelwoi aus.

Wir hatten mit »On The Spree – in twenty-three« einen unschlagbaren Werbespruch entwickelt, den Günther auf die Plakate gedruckt hatte. (Heute müsste man wohl dazu schreiben, dass wir wussten, dass das nicht passte und dass es ironisch gemeint war. Damals war das jedem klar. So ändern sich die Zeiten.)

Hermann erläuterte auf der Bühne, dass Hessen bekanntlich den Grundstock für die deutschsprachige Science Fiction gelegt habe. Er brachte immerhin einige Namen, was stimmig war, die meisten aus dem Umfeld einer gewissen Raketenheftchenserie. Und er erläuterte, warum die internationale Science-Fiction-Szene nur darauf wartete, dass bei einer Konferenz in Berlin eine Weltveranstaltung geplant werde ...

Wenn ich mich recht entsinne, hatte ich irgendwann Lachtränen in den Augen. Das Publikum schrie zeitweise vor Begeisterung. In der Ecke, wo die Leute saßen, die sich für den WorldCon im Jahr 2003 engagieren wollten, herrschte eisiges Schweigen.

Was aus den Plänen für einen WorldCon im Jahr 2003 in Berlin wurde, weiß ich nicht mehr. Die Idee verlief sich wohl im Sand. Meine Erinnerungen an »Hessen für Berlin« bleiben allerdings.

Barcode aus Dänemark

Ich bin der New Yorker Spielart des Hardcore ein wenig überdrüssig geworden. Der Macho-Charakter vieler Bands, die immer gleichen Mosh-Parts – das wurde irgendwann doch ein wenig langweilig. Da kommt mir eine Band wie Barcode gerade recht. Die fünf schwer tätowierten Hardcore-Burschen stammten aus Dänemark, spielten seit 1995 zusammen, machten seit 1997 allerlei Musik und brachten 2004 eine CD heraus, die den schlichten Titel »Hardcore« trug.

Die ist ebensowenig originell wie die ganze Band, aber sie bollert und knallt, dass es eine wahre Freude ist. Die sechs Stücke knallen, sie sind dynamisch, sie werden gnadenlos nach vorne gebolzt und verzichten auf überflüssiges Metal-Gedöns. Wer als Band zudem Zeilen aus dem Film-Klassiker »The Warriors« nimmt und sie zwischen die einzelnen Stücke stellt, ist mir sowieso sympathisch.

Der 90er-Jahre-Sound der Dänen geht mir manchmal richtig gut ins Ohr. Dann stelle ich die CD so laut wie möglich und fahre gedanklich mit dem Prügel-Sound von Barcode über die Landstraße – wie in den 90er-Jahren, als ich solche Bands haufenweise live in irgendwelchen Jugendzentren der badischen Provinz anguckte. Das passt dann!