31 Januar 2024

Piccolo beim Frisör

Der Laden war altmodisch, und er hatte keinen besonderen Namen; er hieß nach seinem Inhaber: »Friseur Würth« war eine Institution in unserer Stadt, und er zeigte in jedem Quadratzentimeter, dass es ihn schon seit Jahrzehnten gab. Besonders gut: Ihm gegenüber war der Sitz von »Elektro-Fortenbacher«, der Firma also, in der mein Vater beschäftigt war.

Und so war es für ihn ganz praktisch, seinen Sohn einzusammeln, wenn er gerade eh »auf Montage« unterwegs war, und ihn zum Haareschneiden beim Frisör abzusetzen. Einen Termin brauchte man nicht, »der Bua« konnte sich gut beschäftigen, und wenn mein Vater dann endlich Feierabend hatte, packte er mich in seinen VW-Käfer, begutachtete den neuen Haarschnitt und fuhr mit mir nach Hause.

Warum ich gerne zum Frisör ging und kein Problem damit hatte, stundenlang herumzusitzen? Des Rätsels Lösung: Der Frisör hatte einen Tisch, auf dem die aktuelle Tageszeitung sowie einige Zeitschriften lagen. Darunter aber war ein Fach, und in diesem stapelte er Comic-Hefte. Es waren schmale Hefte, für die ich damals keinen speziellen Begriff kannte – erst später erfuhr ich, dass es sich um sogenannte Piccolos handelte.

Und was waren das für Schätze! Es gab »Akim« und »Sigurd«, vor allem aber »Tibor«. Die Auswahl wechselte, jedes Mal lagen andere Hefte herum, und mir war die Reihenfolge völlig egal. Ich griff nach einem »Sigurd«, vertiefte mich in ein Abenteuer des tapferen Ritters und war dann für einige Zeit in einer anderen Welt.

Am meisten fesselte mich aber »Tibor«. Dabei handelte sich um einen Dschungelhelden, der nur mit einem Lendenschurz bekleidet war und als einzige Waffe einen Dolch mit sich führte. Er konnte mit den Tieren sprechen – heute würde man sagen, dass es ein »Tarzan«-Abklatsch war –, schlug sich aber auch mit Dinosauriern oder Außerirdischen herum. Im bunten Reigen der Abenteuer gab es eine obskure Mixtur aus Fantasy und Science Fiction, die mein kindliches Hirn wohl für lange Zeit prägte.

Irgendwann sagte mir der Frisör, der damals schon sehr alt war, sicher über sechzig Jahre: »Die Hefte sind von meinem Sohn. Der hat eine ganze Kiste davon, und er mag sie nicht mehr. Wenn du willst, kannst du sie alle haben.«

Ich war faszinierend und begeistert, meine Eltern waren es weniger. Sie wollten nicht, dass ihr Sohn zu sehr durch die »Schundhefte« verdorben wurde. Wenn ich sie beim Frisör las, war das in Ordnung, daheim haben wollte man sie nicht. Also bekam ich nie die große Piccolo-Sammlung des Frisörs.

Das Staunen über die phantastischen Geschichten und das Eintauchen in die fremde Welt der Ritter und Dschungelhelden – das sollte mir bleiben. Und so denke ich oft an den Frisör, der nie erfahren sollte, was er mit seinen Lektüre-Stapeln bei mir anrichtete …

30 Januar 2024

Mit dem Moped in die 90er-Jahre

Als Frank Margerin die ersten Geschichten um seine Figur Lucien und dessen Freunde entwickelte, schrieb man die 80er-Jahre. Die Storys erzählten von Jugendlichen in den Vorstädten von Paris, die übliche Szene- und Jugendprobleme hatten: Ärger in der Schule und mit der Polizei, erstes Verliebtsein, das Ausprobieren neuer Wege, das Entwickeln der neuen Jugendkulturen.

Ich las die Comics damals in deutschen Comic-Heften wie »Pilot« oder »U-Comix« und fand sie klasse. Als sie in Form von Alben veröffentlicht wurden, kaufte ich sie mir ebenfalls. Das ist jetzt vierzig Jahre her. Seit einiger Zeit gibt es die klassischen »Lucien« in einer schönen Gesamtausgabe; dieser Tage las ich den zweiten Band.

Man merkt dem Band an, dass die einzelnen Geschichten deutlich später entwickelt worden sind; sie entstanden in den 90er-Jahren. Lucien ist erwachsener, auch wenn er sich immer noch trottelig aufführt. So lernt er in der ersten Geschichte das Landleben kennen, verliebt sich in der zweiten Geschichte mit viel Energie und Herzschmerz, bevor er dann mit seinen Freunden – man hat mittlerweile eine halbwegs funktionierende Band gegründet – in die USA reist, um dort das Land kennenzulernen und vielleicht auch einen Plattenvertrag abzustauben.

Zuletzt geht Lucien mit seinen Freunden auf ein Motorradtreffen, in dem immer wieder das legendäre Elefantentreffen erwähnt wird. Da würde mich schon interessieren, wie es im französischen Original bezeichnet wurde.

Die Geschichten sind nicht mehr so spontan, und das macht sie ein wenig lahm. Der erste Band der »Lucien«-Gesamtausgabe ist deshalb auch richtig gelungen, der zweite wirkt auf mich ein wenig so, als habe der Künstler ihn mit angezogener Handbremse geschrieben und gezeichnet. Vielleicht war er aber auch einfach schon zu alt für solche Geschichten und zu weit weg von den Leuten, die er porträtiert. 

Ich habe diesen zweiten Band trotzdem gern gelesen und werde ihn in Ehren halten – wer die 80er-Jahre in Comic-Form noch einmal erleben möchte, ist hier gut beraten.

26 Januar 2024

Ein Buch zum Geburtstag

Es war im Dezember 2023 die größte Überraschung für mich: Christina Hacker und ein Team aus Science-Fiction-Machern präsentierten mir zu meinem Geburtstag ein Buch – ein schickes Paperback zum sechzigsten Geburtstag, das dann auch noch den schönen Titel »Das wüsste ich aber!« trug. Ich war wirklich sprachlos, und eigentlich bin ich es immer noch.

Seit ich das Buch bekommen habe, liegt es daheim herum. Ich habe es durchgeblättert, mehr nicht. Enthalten sind viele Texte von unterschiedlichen Autorinnen und Autoren, dazu haufenweise Fotos aus allerlei Phasen meines Lebens. Nicht nur aus dem Science-Fiction-Umfeld – unter anderem gibt es ein Bild, das mich mit Iro zeigt.

Es gibt hoffentlich nachvollziehbare Gründe, warum ich bisher vor einer Lektüre zurückschreckte: Ein Buch, das gewissermaßen zu meinen Ehren erschienen ist, schüchtert mich in gewisser Weise ein. Ich habe mir aber vorgenommen, es in den kommenden Tagen und Wochen zu lesen. Die meisten Leute, die über mich geschrieben haben, kenne ich ja persönlich, manche seit Jahrzehnten – es wird sicher eine Lektüre, die abwechslungsreich und spannend sein wird.

Ich lasse mich darauf ein. Schauen wir mal, was da alles auf mich zukommen wird …

25 Januar 2024

Neuer Vorstand für den Club

Ich bin kein Mitglied im Science Fiction Club Deutschland e.V. (SFCD), war es im Verlauf der Jahrzehnte aber immer mal wieder und stehe dem Verein grundsätzlich mit viel Sympathie gegenüber. Die Zeiten, in denen ich über den SFCD lästerte oder gar versuchte, ihn mithilfe einer Gruppierung, die sich »die Zyniker« nannte, von innen zu reformieren, sind lange vorbei.

Seit einigen Tagen gibt es einen neuen Vorstand, der zum Januar 2024 seine Arbeit aufgenommen hat. Mit Claudia Rapp steuert zum zweiten Mal überhaupt in der SFCD-Geschichte eine Frau den Verein, den es immerhin seit 1955 gibt. Durch die Organisation des MetropolCons in Berlin und ihre Mitarbeit an Science-Fiction-Publikationen etwa des Hirnkost-Verlags ist sie auch außerhalb der Fan-Szene bekannt geworden. Sie könnte also durchaus eine professionellere Sichtweise in den Verein einbringen.

Man muss natürlich sehen, wie sich das alles entwickelt. Fürs erste wünsche ich dem neuen Vorstand aber viel Freude und viel Erfolg bei der Arbeit – Science Fiction ist nach wie vor ein lebendiges Genre!

Krachig in Wien

Es gab für mich immer wieder einen Grund, nach Wien zu reisen. In der Hauptstadt Österreichs kannte ich einige Leute, die ich gern besuchte, und ich hatte immer wieder berufliche Gründe, die mich dorthin führten. Wenn es ging, versuchte ich private und berufliche Termine zu verbinden. Und dazu gehörte, dass ich versuchte, auf ein Punk-Konzert zu gehen.

Als ich am Samstag, 4. September 1999 ins EKH stolperte, hatte ich schon ein bisschen Bier im Kopf. Ich hatte zu Abend gegessen, ich hatte dazu einiges getrunken. Das war eine gute Grundlage für ein Konzert, das mich in euphorische Stimmung bringen könnte.

Nachdem ich die Treppe hinunter zu Konzertraum gegangen war, blieb ich allerdings verwirrt stehen. Gerade mal ein Dutzend Leute lungerte dort herum, auch in der Kneipe waren es nicht viel mehr. Als die Band später auf der Bühne stand, fanden sich vielleicht dreißig Leute ein. Es herrschte eine eher lustlose Stimmung.

Vielleicht lag es am Publikum. Ich hatte das Gefühl, einer der wenigen zu sein, die ein Bier in der Hand hielten. Die anderen wirkten – bei einem Frauenanteil von vielleicht zwanzig Prozent –, als ob sie Straight Edge betrieben und ein Bier eher seltsam fanden. Die einzige Lederjacke im Raum war auch die meine.

Aber gut, das kannte ich von manchen Hardcore-Konzerten in Deutschland nicht anders. Und da musste ich kein Referat darüber halten, dass »Hard-Core« in den 80er-Jahren noch bedeutet hatte, sich besonders viele Nieten auf die Jacke zu tackern und sich bei Konzern besonders rasant mit Bier abzuschießen Wir hatten Ende der 90er- und nicht mehr Anfang der 80er-Jahre, so einfach war das.

Ich besorgte mir an der Theke ein Bier und fragte den Mann hinterm Tresen, warum so wenig los sei. Er hob die Schultern, das sei ihm auch unklar. Wie er mir aber erzählte, hatte ich die eigentlich wichtige Band des Abends verpasst – und das ärgerte mich.

Peace Of Mind aus Göttingen hatten aufgespielt. Ich kannte von dieser Hardcore-Band diverse Platten, die mir gut gefielen, moderner und wuchtiger Hardcore mit starker Emo-Kante. Ich hatte sie noch nie gesehen, und nun waren sie mir in Wien ebenfalls durch die Lappen gefangen.

Immerhin bekam ich die nächste Band mit: eine Gruppe von Männern, die sich in ihren Aussagen sehr zurückhielten. Die Band nannte sich La Affera, und sie kam aus Polen. Mehr erfuhr ich nicht – die Band legte gleich mit einem brachialen Sound los. Es war laut, es war wuchtig, und es blies mir die Ohren fast weg.

So richtig einordnen konnte ich das nicht; weit weg vom Punk auf jeden Fall, schon irgendwie Hardcore, aber schwer auf Metal gebürstet. Manchmal klang es für mich nach Industrial; die Stücke waren laut, sie waren nicht unbedingt schnell, und sie hatten einen eigenen Charakter. Manchmal erinnerten sie mich an die holländische Band Gore, die ich in den späten 80er-Jahren mal gesehen hatte, oder auch an Neurosis, die zu der Zeit sehr angesagt waren.

An diesem Abend fand ich das eher anstrengend. Die einzelnen Stücke gingen mir nicht in den Kopf, Melodien gab es nicht. Auf den wummernden Bass und das knallige Schlagzeug konnte ich immerhin den Kopf bewegen, einige Leute in meiner Nähe zappelten ein wenig herum, aber die meisten standen ebenso da wie ich und schauten interessiert zu, ohne aber begeistert zu wirken.

Ich sah mir den Auftritt der Band bis zum Ende an, dabei trank ich Bier und stand die meiste Zeit in der Nähe des Bühnenrands. »Spannend war das nicht«, murmelte ich, als ich die Treppe hinaufstieg und das EKHG verließ. Aber vielleicht hatte ich in diesen Abend im Voraus zu viele Erwartungen gesteckt …

24 Januar 2024

Spannender Cyber-Thriller

Zu Beginn des 22. Jahrhunderts, in einer Stadt, die von großen Konzernen beherrscht wird: Vor wenigen Jahren ist es zu einem Zusammenbruch des sogenannten Data Space gekommen, was viele Menschenleben gefordert hat. Mittlerweile sind die Strukturen wiederhergestellt, doch einiges ist anders als zuvor. Unter anderem haben sich die Cybertechs entwickelt, Menschen also, die sich ohne maschinelle Unterstützung in den riesigen Datennetzen dieser Zukunft bewegen können.

Das ist der Ausgangspunkt des Romans »Code X« der jungen Autorin Lucinda Flynn, der 2022 als Paperback im Knaur-Verlag erschienen ist und den ich endlich gelesen habe. Die temporeiche Geschichte spielt in einer Zukunft, in der viele Cyberpunk-Ideen längst Wirklichkeit geworden sind, und sie variiert klassische Cyberpunk-Elemente auf unterhaltsame Weise neu.

An dieser Stelle will ich gar nicht zu sehr auf den Inhalt eingehen. Erzählt wird von jungen Leuten, die sich in Computernetzen bewegen und mit einer übermächtigen Künstlichen Intelligenz anlegen. Sie finden Freunde und Verbündete, sie streiten sich untereinander, sie geraten in Konflikt mit anderen Gruppierungen von Cyber-Aktivisten.

Das läuft alles unterhaltsam ab, vor allem deshalb, weil die Autorin geschickt die Szenen so aufeinanderbaut, dass es immer wieder zu spannenden Wendungen und Perspektivwechseln kommt. Es wird gekämpft, man bewegt sich in Netzwerken, die Helden müssen flüchten, der Konzern bleibt als gesichtslose Masse und Gegner ebenso im Hintergrund wie die KI.

Kritisch lässt sich einwenden, dass die Ideen nicht unbedingt neu sind. Seit William Gibson und seine Kollegen in den 80er-Jahren mit Cyberpunk anfingen, habe ich solche Romane schon häufig gelesen. Derzeit sind sie wieder schwer in Mode – kein Wunder angesichts des politisch-kulturellen Umfelds.

Die Autorin greift viele aktuelle Diskussionen um die Künstliche Intelligenz auf, verzichtet bewusst darauf, ihre Stadt der Zukunft klarer zu fixieren – mir wäre eine Verortung in Seattle, New York oder Wanne-Eickel lieber gewesen – und liefert einen spannenden Roman ab, den man kaum als Cyberpunk, aber korrekterweise als Cyber-Abenteuer bezeichnen kann.

Wer so etwas mag, wird hier bestens unterhalten!

23 Januar 2024

Starke Story, schwache Bilder

In den vergangenen Jahren haben die Comic-Romane auch im deutschsprachigen Raum enorm gewonnen; man findet sie mittlerweile in »seriösen« Buchhandlungen, nicht nur im »schnöden« Comic-Fachhandel. Graphic Novels, so der offizielle Begriff, werden anscheinend vom seriösen Bürger als Lektüre akzeptiert, das Feuilleton schreibt darüber; dafür muss man sich weder schämen noch verstecken.

Mit manchen dieser Comics fremdle ich allerdings – und »Unter den Kieseln der Strand« ist hierfür ein gutes Beispiel.

Dabei ist die Geschichte wirklich gut. Sie spielt im Jahr 1962. Drei männliche Jugendliche in einem kleinen französischen Ort langweilen sich in den Ferien ein wenig. Sie gammeln am Strand herum, sie plündern den Weinkeller der Eltern, sie lernen ein Mädchen kennen. Und was so verspielt losgegangen ist, wird auf einmal zu einem Kriminalfall und gleichzeitig zu einer Liebesgeschichte.

Pascal Rabaté baut seine Geschichte ruhig auf. Er stellt die Personen vor, und dann dreht er die Story weiter. Einbrecher spielen auf einmal eine Rolle, die Familie mischt sich ein, und am Ende hat sich die Welt für den eigentlichen Helden der Geschichte völlig verändert. Das ist spannend erzählt und hat mir bei der Lektüre richtig Spaß bereitet.

Dabei konnte ich mit der künstlerischen Ausrichtung nichts anfangen. Die Zeichnungen sind in einem schlichten Schwarzweißgrau gehalten, was grundsätzlich okay ist, die Figuren aber wirken nur schraffiert; Gesichter oder Hände sind sehr einfach und weit entfernt von anderen Comics, die ich mag.

Rabaté hat sich vielleicht für diesen reduzierten Stil entschieden, weil dadurch die Geschichte wichtiger wird als die Bilder – meinen Geschmack trifft er damit nicht. (Wer sich das nicht vorstellen mag, sollte unbedingt die Leseprobe auf der Internet-Seite des Splitter-Verlags anschauen.) Aber ich muss ja auch nicht alles mögen ...

22 Januar 2024

20.000 Leute mindestens

Als ich am Samstag mit leichter Verspätung in Richtung Marktplatz radelte, überlegte ich mir noch, wo ich mein Rad abstellen sollte. Ich ging aufgrund der Berichte von anderen Demonstrationen davon aus, dass auch in Karlsruhe viel los sein würde, dass ich aber keine Probleme haben dürfte, in der Nähe des Stadtzentrums mein Rad abzustellen.

Aber als ich über den Zirkel fuhr, wurde mir klar, dass meine Erwartungen übertroffen wurden. Schon da, gut 500 Meter vom Marktplatz entfernt, wimmelte es von Menschen. Platz für Räder gab es auch keinen mehr; ich stellte mein Rad irgendwo ab.

(Später hieß es überall, es seien über 20.000 Leute gewesen, die sich an der Demonstration gegen Rechtsradikale beteiligt hatten. Keine Ahnung, ob das stimmt – wenn ich mir entsprechende Luftaufnahmen anschaue, glaube ich das sofort.)

Ich brauchte lang, um überhaupt nur an den Rand des Marktplatzes zu kommen. Die Menschen standen dicht gedrängt, aus allen Richtungen strömten weitere hinzu. Ich sah die Stände des Blumenmarktes, die von der Menge umgeben waren und deren Verkäufer an diesem Tag sicher einen schlechten Umsatz machten, und ich sah den kleinen Lautsprecherwagen, der für eine Demo von vielleicht tausend Leuten ausreichte, nicht aber für die Menge.

Weil ich mich ein wenig umsehen wollte, machte ich kehrt, ging durch Nebenstraßen und stieß dann bei der Hauptwache wieder auf den Rand des Marktplatzes. Auch hier standen die Menschen dicht gedrängt, hier hörte man immerhin ab und zu mal etwas aus den Lautsprechern.

Es war allerdings ein großartiges Wetter: Wir hatten Minusgrade, überall lag Schnee, aber die Sonne schien vom Himmel. Überall um mich herum standen Leute, die lachten und sich freuten; es herrschte eine beeindruckend gute Stimmung.

Wer genau auf der kleinen Bühne sprach, bekam ich nicht mit. Eine Rednerin holte zum großen Rundumschlag aus und führte den aufkeimenden Faschismus mal wieder auf den Kapitalismus zurück – dieser Theorie konnte ich schon früher nichts abgewinnen –, machte aber klar, dass die Anwesenden vielleicht nicht alle die gleiche Meinung hätten, sich aber einig seien, dass man die Nazis stoppen müsse. Das fand ich dann auch gut.

Irgendwann setzte sich die Demo in Bewegung. Ich hatte mittlerweile mehrere Bekannte getroffen, und wir gingen als Gruppe mit, wobei wir wir uns weniger an den Sprechchören beteiligten, als über Gott und die Welt laberten. Beim Gang durch die Straßen zog sich die Demonstration ewig in die Länge, und meine Bekannten lösten sich irgendwann aus dem Zug. Ich spazierte selbst zum Marktplatz zurück.

Dort trudelten immer mehr Leute ein, vor allem jüngere Menschen, die ich – im weitesten Sinn – zum Antifa-Spektrum zählen würde. Die Polizei, die sonst bei Antifa-Demonstrationen sehr martialisch auftritt, hielt sich sehr zurück. Nur wenige Beamte standen herum und unterhielten sich mit Demonstranten. Aus den Lautsprechern kam laute Musik, es schien sich eine Party zu entwickeln. Ich schätzte, dass sich gegen 15 Uhr schon wieder um die tausend Leute eingefunden hatten.

Weil ich daheim noch einiges zu tun hatte, verließ ich den Marktplatz, fand zu meinem Fahrrad zurück und radelte quer durch die Stadt zurück. Überall waren Leute unterwegs, die sichtlich von der Demonstration kamen, überall spazierten Grüppchen durch die Stadt, die teilweise selbstgemalte Plakate und Transparente trugen.

Dieses positive Bild von einer friedlichen Innenstadt ohne Hass und Wut – ich hatte genügend Aufmärsche von Rechtsradikalen, Coronaleugnern und »Querdenkern« gesehen, bei denen man den blanken Hass in den Gesichtern der Leute wahrgenommen hatte – trug ich mit nach Hause. Und ich hoffte, dass es lange bleiben würde.

18 Januar 2024

Mehr Pop, weniger Punk

Als ich in den frühen 90er-Jahren mehrere Vorträge zur Geschichte von Punkrock und Hardcore hielt, unter anderem in diversen Jugendhäusern der Republik, stellte ich die Historie gern als eine Abfolge von Gegenbewegungen dar. Straight Edge als Gegenentwurf zum ausufernden Drogenkonsum in der amerikanischen Szene, Pop-Punk als Gegenentwurf zum immer heftiger werdenden Hardcore. Und die Band Mega City Four war für PopPunk in den späten 80er-Jahren ein Beispiel, das ich gern nutzte.

Die Band gab’s von 1987 bis 1996, und sie wurde mal in das Fach IndieRock gesteckt und mal als PopPunk betitelt. Höre ich mir heute ihre Platte »Magic Bullets« an, die von der Band im Jahr 1993 veröffentlicht wurde, bin ich ein wenig ratlos. Ich weiß, dass mir das damals gefallen hatte, und ich erinnere mich daran, dass ich Stücke dieser Platte auch gern im Radio spielte – aber mehr als dreißig Jahre später haut sie mich echt nicht mehr von den Socken.

Und zwar so richtig gar nicht mehr … Von den insgesamt 13 Stücken der Platte sind vielleicht vier oder fünf Stücke gut – und damit meinen ich eher ruhigen Punkrock mit poppigem Gesang –, die anderen empfinde ich als schlapp und langweilig. Sie sind nett, man kann sie sich anhören, aber sie sind meilenweit von einer Punkrock-Attitude entfernt, meiner Ansicht nach zu sehr Pop und zu wenig Punk. Die guten Stücke sind energisch und werden gut nach vorne gebolzt, bei den anderen herrscht eine lahme Melodie vor.

Man muss fair sein: Die Band nahm in gewisser Weise den Emopunk späterer Jahre vorweg. Vieles von dem, was einige Jahre später vor allem aus den USA kam und als Emopunk bezeichnet wurde, war ähnlich langweilig und schlapp …

Was Mega City Four angeht, so werde ich doch mal wieder die Singles der Band aus den Kisten kramen. Die fand ich klasse – aber es ist schon lange her, seit ich sie gehört habe. Vielleicht können sie mich eher überzeugen als die Langspielplatte »Magic Bullets«?

17 Januar 2024

Massiv genervt

Höre ich in diesen Tagen die Nachrichten, während ich beispielsweise zur Arbeit fahre oder daheimsitze, fällt mir auf, dass gewisse Wörter offensichtlich fehlen. Es gibt keinen »starken« Schneefall mehr, es gibt »massiven« Schneefall. Es gibt keine »großen« oder meinetwegen »erhebliche« Probleme im Land, sondern es sind gleich »massive« Probleme.

Selbstverständlich ist auch der Verkehrsstau nicht »groß« oder »lang«, sondern ebenfalls »massiv«, und die Wahlerfolge der rechtsradikalen AfD führen zu einem »massiven« Verlust an Demokratie. Und so weiter.

Gibt es eine neue Sprachregelung? Hat die Sprachpolizei zugeschlagen? Sind alle Redakteurinnen und Redakteure endlich gleichgeschaltet worden?

Nein. Selbstverständlich nicht. Sie können schlicht kein richtiges Deutsch mehr, scheint mir in solchen Fällen.

Man fragt sich nur, warum an solchen Stellen die Sprachpolizei nicht aufschreit. Wagt es jemand, öffentlich die Gendersprache zu benutzen, wird Zeter und Mordio geschrien, beschwören manche Leute glatt den Untergang des Abendlandes herauf. Wenn sich schlechtes Deutsch durchsetzt oder immer mehr Denglisch benutzt wird, stört da die gleichen Sprachpolizisten nicht.

Aber gut – die können ja mehrheitlich selbst kein vernünftiges Deutsch sprechen, schreiben oder auch nur denken. Wie sollten sie dann echte Fehler bemerken, wenn sie sich auf das »in« bei manchen Wörtern oder irgendwelche Sternchen konzentrieren müssen?

16 Januar 2024

Spannender Krimi als grandioser Comic

Ende des 19. Jahrhunderts, die sogenannte Belle Époque: Frankreich ist eine der führenden Nationen der Welt. Die Industrie blüht, die Wirtschaft wächst, es entstehen neue Kunstrichtungen. Und nach wie vor haben die Männer das Sagen, während die Frauen im Hintergrund stehen und häufig verachtet werden. Das ist der Ausgangspunkt für den spannenden Comic »Herbst an der Bucht der Somme«, der den Geist dieser Zeit hervorragend aufgreift.

Die Geschichte beginnt mit einem Mord. Ein toter Industrieller wird auf seinem Schiff gefunden, das in der Bucht der Somme ankert. Ein Polizist aus Paris beginnt mit seinen Ermittlungen, die nicht von allen gleichermaßen geschätzt werden. Der Industrielle hat, wie es scheint, im Leben alles richtig gemacht – sogar die Arbeiter schätzen ihn. Und doch hat ihn jemand brutal umgebracht. Der Polizist beginnt zu graben, und seine Forschungen führen ihn sowohl in die höchsten Kreise der Industrie als auch in die Armenviertel des rasant wachsenden Paris …

Philippe Pelaez als Autor der Geschichte vermittelt den Zeitgeist der Belle Époque sehr glaubhaft. Die sich entwickelnde Gesellschaft mit all ihren Schattenseiten dient ihm als Kulisse für eine spannende Geschichte mit ungewöhnlichen Wendungen. Er zeigt Arbeiter und Prostituierte, den Wohlstand der Oberklasse und das Elend der Armen. Vor allem gibt es Einblicke in das Paris jener Zeit – der Montmartre wird von ihm als Armenviertel gezeichnet, in dem eben noch einige Windmühlen stehen. Immer wieder stellt er die Rolle der Frauen jener Zeit heraus: Sie waren noch weitgehend rechtlos, wollten sich damit aber immer weniger abfinden.

Der Comic wäre aber nichts ohne die beeindruckenden Bilder, die Alexis Chabert beisteuert. Seine Darstellung der Belle Époque ist von den Künstlern jener Zeit beeinflusst. Er zeigt die Straßen von Paris, die schicken Innenräume und die Arbeiterquartiere in einer Farbenpracht und Detailverliebtheit, die ich richtig stark fand. Seine Bilder laden dazu ein, den Comic nach der ersten Lektüre gleich noch ein zweites und drittes Mal zu lesen.

Am Ende bleibt ein Fazit: »Herbst an der Bucht der Somme« ist ein knackiger Krimi mit einer sehr spannenden Handlung, der mit seiner starken Illustration vollends überzeugt. (Erschienen ist er bei Splitter.) Toll!

15 Januar 2024

Nazis ausgrenzen – ja bitte

Es ist eine Weile her, seit ich die erste Diskussion um die sogenannte Grauzone mitbekommen habe. Wer den Begriff nicht kennt, dem sei er hier sehr grob zusammengefasst: Wer zwar nicht rechtsradikal ist, aber kein Problem damit hat, mit beinharten Nazis befreundet zu sein, wird zur »Grauzone« gezählt und idealerweise wie ein Nazi behandelt. Das betraf in den 90er-Jahren vor allem Bands, die sich des Vorwurfs erwehren mussten, zur rechtsradikalen Szene gezählt zu werden.

Ich will an dieser Stelle keine alten Diskussionen aufwärmen. Es geht um das Hier und das Heute: Wir haben längst eine Situation, wo es nicht mehr darum geht, dass irgendwelche Leute ihre kleine kuschelige Punkrock-Szene sauber halten wollen. Wir haben ein ganzes Land, das nicht mehr – wie in den 80er- und 90er-Jahren – in weiten Teilen sehr konservativ ist und immer gern mit faschistischem Gedankengut liebäugelte, sondern das jetzt in immer stärkerem Umfang dazu neigt, eine offen rechtsradikale Partei gutzufinden und wählbar zu machen.

Da ist es gut, wenn Leute auf die Straße gehen und Flagge gegen Nazis zeigen. Aber das reicht nicht aus. Es muss ein gesellschaftlicher Druck entstehen. Klar – da müssen die Politik und die Medien mitmachen. Solange die Medien – ich weiß, »die Medien« ist zu pauschal – aber die AfD und andere Braundenker ständig hofieren, wird sich daran nicht viel ändern.

Also muss der brave Bürger sich entsprechend verhalten, Leute wie ich also. Das heißt jetzt nicht, dass man Konservative mit Nazis in einen Topf wirft. Das heißt nicht, dass man Leute hasst, die vielleicht »rechts« stehen, aber noch keine Faschisten sind. Aber das heißt, dass man klare Linien zieht.

Man setzt sich nicht zu Nazis an den Tisch (wenn man weiß, dass es Nazis sind). Man teilt nicht ihre Aussagen in den Sozialen Medien. Man redet nicht mit ihnen. Man diskutiert nicht mit ihnen. Man grenzt sie aus, wo es geht und wo man kann. Das geht nicht immer, schon klar – aber wenn ich weiß, dass ein örtlicher Gastwirt oder der Betreiber einer Ladenkette sich aktiv bei der AfD betätigt, dann gehe ich da nicht mehr hin. Es gibt schließlich andere Firmen, wo ich mein Geld ausgeben kann.

Und so weiter. Ich fasse auch an meine eigene Nase. Klar pflege ich keinen Umgang mit Rechtsradikalen. Und klar: Ich fange jetzt nicht an, Gesinnungsschnüffelei zu betreiben. Wenn aber jemand in diesen Tagen allen Ernstes das Wort »Remigration« abfeiert, weiß ich einfach, wohin ich diesen Menschen zu stecken habe. Und so weiter …

12 Januar 2024

Zwischen Spitzbergen und Belgien

Weil mich die Szenerie interessierte, sah ich mir spontan die erste Folge der Miniserie »Die Saat« in der Mediathek der ARD an. Diese Dreiviertelstunde gefiel mir so gut, dass ich mir danach zügig alle sechs Folgen anschaute – für eine Serie, die eben Fernsehunterhaltung bietet, ist das gut gemacht und hat mich über die ganze Länge gefesselt.

»Die Saat« spielt auf der Inselgruppe Spitzbergen, in belgischen Städten wie Brüssel und Ostende und auch ein wenig in München. Vordergründig geht es um einen jungen Mann, der verschwunden ist; in Wirklichkeit aber steht im Hintergrund, wie man die wachsende Weltbevölkerung ernähren und Hungerkatastrophen verhindern kann. Das klingt jetzt ein wenig kompliziert, wird in den sechs Teilen aber sauber erzählt. (Das ist keine anspruchsvolle Serie, sondern ein Krimi fürs Fernsehen; da darf es nicht zu kompliziert sein.)

Der junge Mann hat sich als Reporter in Eigenregie für Saatgut und seine Entwicklung interessiert. Sein Ziel ist, die Machenschaften eines multinationalen Konzerns aufzudecken. Dabei kommt er mächtigen Leuten in die Quere. Und als er verschwindet, mischt sich ein deutscher Polizist ein.

Fasst man die Handlung so zusammen, klingt das ja ein wenig schlicht, ist aber spannend gemacht. Die Rolle des muffeligen und schlecht gelaunten Polizisten aus Deutschland wird von Heino Ferch verkörpert, der das sehr gut rüberbringt. Auch die anderen Rollen in den unterschiedlichen Ländern fand ich gut besetzt; nicht alle glaubhaft, aber trotzdem in sich stimmig. Es wird viel geforscht und gesprochen, Action gibt es nur selten; ab und zu wird gerannt, und sehr selten fällt ein Schuss.

Dass man »Die Saat« mit dem Untertitel »Tödliche Macht« versehen hat, der nicht aussagt, aber halt irgendwie spannend klingt, ist eigentlich schlapp. Die Miniserie hat so etwas nicht verdient. Sie bietet spannende Unterhaltung – und wer mag, kann sich hinterher noch Gedanken über das übergeordnete Thema machen. Die Miniserie kann also durchaus den einen oder anderen Denkanstoß bieten.

Was erwarte ich mehr von Fernsehunterhaltung?

11 Januar 2024

Der ElsterCon 1994

Im Mai 1994 fuhr ich zum zweiten ElsterCon nach Leipzig, ich war mit meinem alten Jetta unterwegs. An den Con habe ich vergleichsweise verschwommene Erinnerungen, auch wenn ich mehrere Programmpunkte besuchte. Skurriler sind die vielen anderen Begebenheiten, an die ich mich nach dreißig Jahren noch gut erinnern kann.

Hermann Ritter und ich trafen uns im »Conne Island«, dem Autonomen Zentrum in Leipzig. Dort kannte ich mich aus, dort war ich schon einige Male gewesen, über dieses Zentrum hatten wir unsere Schlafgelegenheit organisiert. Wir fuhren von dort aus zum Con.

Hermann und ich übernachteten in einer Wohnung, die ich nicht mehr finden würde. Das Völkerschlachtdenkmal war in Laufweite, mehr weiß ich nicht mehr. Es gab einen geräumigen Kellerraum, wo wir stundenlang saßen und uns unterhielten. Und wir sollten uns den Schlafplatz mit einer Band teilen. Diese hieß Eisenvater, es gibt sie auch heute noch – in der einen bewussten Nacht erschien sie aber nicht.

Und die Rückfahrt über die Autobahn war chaotisch. Hermann und ich steckten gefühlt 60 Kilometer in einem Stau und rollten von Eisenach bis Frankfurt zumeist im Schritttempo. Wir erzählten uns in einer Tour blöde Witze und hatten hinterher Bauchkrämpfe vom vielen Lachen.

Ja, und es gab einen Science-Fiction-Con. Schon klar. Der war auch gut, wenn ich mich recht erinnere, und ich führte viele nette Gespräche. Aber das Drumherum war in jenem Jahr wesentlich spannender ...

10 Januar 2024

Zwischen Kiew und Portugal, zwischen Liebe und Tod

Eine Studentin aus Kiew, die mit ihrem trunksüchtigen Vater zusammenlebt und dessen dauernd besoffenen Kumpane ertragen muss, lässt sich auf das Angebot einer Agentur ein. Sie reist in den Westen, trifft auf einen älteren deutschen Mann, zieht mit ihm zusammen und erwartet eigentlich nur das Schlimmste. Doch dann kommt alles anders als sie denkt …

Liest man diese Beschreibung des Romans »Bis zum Ende der Welt«, könnte man glauben, es handle sich um eine typische Liebesgeschichte, einen von jenen Romanen also, die immer wieder die gleiche Story in neuen Variationen erzählen: Junge Frau trifft älteren Mann, nach anfänglichen Schwierigkeiten verlieben sich die beiden, und alles ist gut.

Bei einem Autor wie Norbert Zähringer ist damit zu rechnen, dass einiges anders kommt, als man anfangs erwarten könnte. Tatsächlich bahnt sich in seinem Buch eine Beziehung an, aber das verläuft nicht so, wie man es erwarten könnte.

Tatsächlich spielt das Ende der Welt in dreifacher Hinsicht eine Rolle in diesem Roman. Der ältere Deutsche sieht sein Lebensende kommen. Und so will er mit der jungen Frau seine letzten Tage und Wochen – sie soll dafür bezahlt werden – in Portugal verbringen, am westlichsten Punkt von Kontinentaleuropa also. Gleichzeitig haben beide ein gemeinsames Interesse: Sie lieben die Sterne, sie schätzen den Blick in die Unendlichkeit.

Damit ist allerdings nur ein Teil des vielschichtigen Romans vorgestellt. Die Handlung ist dicht, trotzdem schafft es der Autor, die Geschehnisse unterhaltsam und spannend zu schildern. Seine Charaktere aus der Ukraine, Portugal und Deutschland sind glaubhaft, ja, geradezu lebendig, und man kann jederzeit mit ihnen sowie ihren Gedanken mitfühlen.

»Bis zum Ende der Welt« ist der Beweis dafür, dass Literatur aus Deutschland spannend sein kann, ohne sich den Konventionen irgendwelcher Genres zu unterwerfen. Ein starkes Buch!

(Erschienen ist es als Hardcover mit Schutzumschlag bei Rowohlt. Und dort kann man sich auch einige Informationen über das Werk besorgen.)

09 Januar 2024

Wie ich schlagartig wieder 17 wurde

Sommer 2023: Mit meinem Rad war ich in einem Ortsteil von Karlsruhe unterwegs, den ich als sehr ländlich empfand; mit einer städtischen Umgebung hatte das alles nichts mehr zu tun. Ich folgte gerade einem schmalen, gewundenen Weg in der Nähe eines Baches; kleine Steine knirschten unter meinen Rädern. Der Weg führte die meiste Zeit zwischen Rasenflächen hindurch, immer wieder unterbrochen durch Gruppen von Büschen und kleine Baumgruppen.

Als ich eine Handvoll Spaziergänger vor mir wahrnahm, wurde ich langsamer. Es waren ältere Menschen, allesamt grauhaarig, zwei Frauen und zwei Männer; sie führten einen Dackel an der Leine mit sich. Aus der anderen Richtung näherte sich ebenfalls ein Radfahrer. Die Frau mit dem Dackel stellte sich so hin, dass der Radler nicht weiterfahren konnte; ich sah, dass sie sich unterhielten und sie erst dann den Weg freimachte.

Vorsichtig rollte ich weiter und auf die Gruppe zu. Immerhin stellte sich mir niemand in den Weg.

Als ich auf der Höhe der grauhaarigen Frau war, schnauzte sie mich an: »Hier ist doch kein Radweg!« Sie wirkte zornig, das war kein lockerer Spruch. »Der Radweg ist dort drüben!« Sie zeigte auf einen anderen Weg, der sich keine zehn Meter von uns entfernt ebenfalls durch die Gegend schlängelte.

Schlagartig war alles klar: Ich war ein 17 Jahre alter Jugendlicher auf einem Rad, der von grauhaarigen Menschen öffentlich angemault wurde. Die Rollen waren eindeutig verteilt: dort die Alten, hier der Junge.

Ich versuchte, höflich zu bleiben, während ich langsam an der Gruppe vorbeirollte. »Wäre es nicht sinnvoll, da vorne ein Schild hinzustellen? Dann wüsste ich das auch.«

Die Frau wurde laut. Es sei eine Unverschämtheit von mir, so zu tun, als ob es da kein Schild gehe. Das sei doch nicht zu übersehen. Ich solle meine Brille putzen. Den Rest hörte ich nicht mehr, weil mir das Blut in den Kopf schoss.

Ich war nun endgültig 17 Jahre alt. Ohne auch nur nachzudenken, hob ich die rechte Hand, reckte den Mittelfinger in die Höhe und fuhr langsam weiter. Hinter mit ertönte ein wüstes Geschimpfe im breitesten Badisch, unterlegt mit vielen Schimpfwörtern. Meine Botschaft war angekommen. Ich erwartete schon, dass sie den Dackel hinter mir herhetzen würden.

Gut 200 Meter weiter endete der schmale Weg an einer Straße. Ich war mittlerweile deutlich älter geworden und hatte meine Ruhe wieder gefunden. Gelassen schaute ich mir alle Schilder in der Umgebung an. Wenn das ein reiner Fußweg war, musste das doch auf jeder Seite des Weges kenntlich gemacht werden. Ich sah kein Schild, das mir verbot, den Weg mit dem Rad zu benutzen, nichts dergleichen.

Achselzuckend fuhr ich weiter. Ich fühlte mich im Recht, kam mir vor wie ein Jugendlicher, der von »alten Leuten« schikaniert wurde. Was für alte Säcke, was für ein blödes Gemaule! Und was war ich für ein cooler Jungspund!

Weitere 200 Meter fuhr ich, bis sich mein geistiges Alter wieder dem biologischen Alter angepasst hatte. Mir wurde bewusst, dass meine Haare selbst grauer wurden, buchstäblich von Tag zu Tag. Wahrscheinlich waren die »alten Leute«, über die ich mich geärgert hatte, nicht viel älter als ich selbst.

Da schämte ich mich ein wenig für meinen Stinkefinger und für meinen Rückfall in Teenager-Zeiten. Aber nur ein wenig. Dann lachte ich über mich, meine unklare Selbsteinschätzung und über mein immer noch schnell überschäumendes Temperament – mit erhöhtem Tempo fuhr ich nach Hause.

08 Januar 2024

Ein paar Sätze zum Bauernprotest

Ich kann es stets gut verstehen, wenn Leute gegen etwas protestieren und dafür auf die Straße gehen. Das habe ich selbst oft genug getan und wurde dafür gelegentlich von der Polizei verhaftet oder verprügelt. Wie das halt so ist, wenn man auf der »falschen Seite« steht.

Heute wurde bundesweit den Landwirten der rote Teppich ausgerollt, damit sie protestieren konnte. Klar: Gegen einen Traktor hat ein Polizist weniger Chancen als gegen einen einzelnen Demonstranten mit bunten Haaren. Aber das offensichtliche Kuscheln der Politiker mit diesem Protest, während man andere Proteste niederschlagen lässt oder ins terroristische Lager schiebt – argumentativ zumindest –, ist schon sehr offensichtlich.

Ich kann jeden Landwirt verstehen, der protestiert. Ich kann vor allem die kleinen Landwirte verstehen. Ich komme aus einem Dorf, das früher stark von Landwirtschaft geprägt war, und ich habe oft in der Landwirtschaft ausgeholfen. Die Arbeit ist hart, man hat kein freies Wochenende, und man wird schlecht bezahlt. (Dass mittlerweile ein großer Teil der Landwirtschaft aus Agrarfabriken besteht, ist ein anderes Thema – wobei das natürlich hier auch reinspielt.)

Landwirte sind oft hoch verschuldet, viele geben auf, weil sie buchstäblich am Ende sind. Und die Politik hat in all den Jahrzehnten – auch unter früheren Regierungen – viel geschwätzt und versprochen, vor allem aber den Eindruck vermittelt, man sei gegen die Bauern.

Das erklärt den Protest. Es erklärt auch manche überzogene Parole. Es erklärt allerdings nicht, wenn Bauern dann allen Ernstes auf die Parolen der Rechtsradikalen hereinfallen und diese skandieren. Da fehlt mir dann doch das Verständnis. Komplett.

Kurz zusammengefasst:

Bauernproteste – na klar. Nazi-Bauern – auf gar keinen Fall.

05 Januar 2024

Fantasy-Storys aus den 80er-Jahren

In der ersten Hälfte der 80er-Jahre war der Erste Deutsche MYTHOR-Club nicht nur ein Verein, in dem sich die Fans der Fantasy-Heftromanserie MYTHOR sammelte. Es war darüber hinaus ein Verein für junge Leute, die ihre ersten Versuche als Grafiker und Autoren in der Öffentlichkeit unternahmen.

Einer von ihnen war Kai Meyer, der heute mit seinen Romanen zu den erfolgreichsten Schriftstellern der phantastischen Szene gehört. 1985 stellte er als Jungredakteur die zweite Ausgabe seines Fanzines »Weltentore« zusammen.

Die Unterzeile »Fantasy von Hobby-Autoren« stellt klar, dass es sich um Amateurtexte handelt, die Zusammenstellung kann sich trotzdem sehen lassen und bildet den Standard in der Mitte der 80er-Jahre ab. Magier und Krieger, Drachenelfen und Waldläufer treten in den einzelnen Geschichten auf; es gibt allerlei Kämpfe, zwischen denen sich viele Dialoge und knappe Beschreibungen finden. Die Autoren – darunter Kai Meyer selbst – orientierten sich am Stil der Heftromanserie MYTHOR.

Grafisch ist das Heft eher schlicht gehalten. Der Redakteur tippte alle Texte ab, so dass ein einheitliches Schriftbild entsteht – Schreibmaschinen-Layout eben –, wobei es zu den einzelnen Seiten auch Ornamente gibt. Kai Meyer steuerte auch einige Illustrationen bei, darunter das Titelbild.

Insgesamt hatte das Fanzine 72 Seiten im A5-Format, die 2,50 Mark kosteten. Die Auflagenhöhe ist nicht bekannt, sie dürfte aber nicht sehr hoch gewesen sein. Auch damit war »Weltentore« ein typisches Fantasy-Fanzine aus der Mitte der 80er-Jahre – auf jeden Fall nichts, wofür sich der damals 16 Jahre alte Kai Meyer heute schämen müsste.

04 Januar 2024

Eine Nacht im Ghetto

Ein Blick auf Punkrock-Klassiker – Teil 3

Wenn es darum geht, über die frühen deutschen Punk-Bands zu sprechen, fallen immer Namen wie Slime oder Razzia. Vor allem Razzia kann ich mir immer noch sehr gut anhören, die frühen Platten der Band sind echte Punkrock-Klassiker.

In den 80er-Jahren sah ich Razzia zweimal und war jedes Mal begeistert; unter anderem traten sie mal in Konstanz im Rahmen eines lokalen Festivals auf. Spätere Auftritte in den 90er- und Nuller-Jahren schafften es nicht mehr, diese Faszination bei mir auszulösen. Bei den Platten klappt das aber noch.

Die Band hatte gute Texte, die oft politisch waren, ohne Parolen zu dreschen. Der Punkrock, den sie spielte, war melodisch und knallte; optimal geeignet für Pogo. Mein liebstes Razzia-Stück ist wahrscheinlich »Nacht im Ghetto«; das fand ich damals schon intensiv.

03 Januar 2024

Zwischen Punk-Roman und Thriller

Ich wusste nicht so recht, was mich erwartete, als ich den Roman »Punked« kaufte. Yasmin Sibai ist und war mir nicht persönlich bekannt. Sie hatte in den späten 80er- und in den 90er-Jahren bei der Band Geteilte Köpfe gespielt, die ich zweimal live gesehen hatte und von der ich eine Platte besitze. Die Kombination aus Titel und Autorin machte mich neugierig.

Der Roman erwies sich als eine ziemliche Achterbahnfahrt, gut geschrieben und sehr abwechslungsreich, aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Die auftretenden Figuren lernen sich alle in der Punk-Szene von Hannover kennen, Ende der 80er-Jahre und in den 90er-Jahren; man spielt in Bands zusammen, man konsumiert Drogen, man versucht, sich auf verschiedene Weise durchzuschlagen.

Tatsächlich macht der Punk- und Hardcore-Hintergrund einen großen Reiz des Romans aus. Keine Ahnung, wie Leser das empfinden werden, die noch nie von den Bad Brains oder von den Wipers gehört haben. Ständig wird Musik zitiert, immer wieder gibt es Verweise auf Bands; Songtexte sind zwischen die einzelnen Kapitel gestellt. Wobei der Punk, um den es hier geht, sehr amerikanisch ist, häufig mit den Einflüssen, die mir damals zu verkopft waren oder die unsereins als JazzCore bezeichnete. (Ich sag‘ nur: Minutemen.)

Aber gut: Die Punk-Szene bildet den Hintergrund. Die eigentliche Geschichte hat mit dem seltsamen Tod eines ehemaligen Punkrockers zu tun, der angeblich an einer Überdosis gestorben ist. Als seine ehemalige Freundin – ich denke, da hat sich die Autorin selbst »verarbeitet« – auf die Idee kommt, ein wenig nachzuforschen, rutscht sie in eine gefährliche Szenerie hinein. Irgendwann geht's um Drogen und andere alte Geschichten, und Leute werden umgebracht.

Das letzte Drittel des Romans ist ein Thriller, dessen Handlung von Berlin nach Polen und zurückführt, bei dem es ordentlich zur Sache geht und den ich dann kaum noch aus der Hand legen konnte. Das ist alles ziemlich rasant; die Autorin bietet dabei haufenweise an spannenden Szenen auf. Die Begegnung mit Hackern in Polen hat etwas von Geheimdienstroman, der Abschluss bietet eine Verfolgungsjagd bis in die Niederlande.

»Punked« ist ein Roman, den ich nicht seriös beurteilen kann. Zu stark ist halt der Punk-Zusammenhang für mich. Der Roman ist aber darüber hinaus mitreißend, in einem modernen Stil erzählt und super-unterhaltsam. Wer eine neue Autorin kennenlernen möchte, die eine ungewöhnliche Geschichte zu erzählen hat, sollte »Punked« antesten.

02 Januar 2024

Einige Sätze zu Torsun

Wann genau ich Torsun kennenlernte, weiß ich nicht mehr. Es war zu Beginn der 90er-Jahre, vermutlich im Autonomen Zentrum in Heidelberg oder im Autonomen Zentrum in Mannheim, vielleicht aber auch im Proberaum der Band Kalte Zeiten in Mannheim. Bei Kalte Zeiten spielte Torsun mit; ein dünner Typ mit zerschlissenen Klamotten und bunten Haaren, der aus einer Kleinstadt von der Bergstraße kam.

Zuletzt traf ich ihn auf der Buchmesse in Leipzig, das war irgendwann vor Corona, vielleicht sogar 2019. Ich arbeitete bei uns am Messestand, ich trug einen Anzug, und er sah aus wie immer: zerschlissene Hose, Kapuzenpulli, strubbige Haare. Wir fielen uns um den Hals, wir laberten in rasendem Tempo miteinander, und dann ging er zu einem Termin.

Seine Band Egotronic sah ich nie live; warum auch immer. Damit wurde er zuletzt in größeren Kreisen bekannt; die Mischung aus Elektro und Deutschpunk fand offenbar Anklang. Die Texte waren radikal, die Auftritte schmissig. Er machte keinen Hehl aus seiner staatskritischen Sicht der Dinge, wobei Torsuns Texte nie platt zu waren.

Und heute lese ich, dass Torsun kurz vor dem Jahreswechsel gestorben ist. Ich wusste, dass er lange Zeit schon krank war; das war im Internet an verschiedenen Stellen zu lesen. Die Nachrichten schwankten; mal hörte es sich nach einer guten, dann wieder nach einer schlechten Entwicklung an. Er wurde, wenn ich es im Kopf richtig überschlage, keine fünfzig Jahre alt.