12 Januar 2022

Ein Flackern aus der Ferne

Die Frau ist nur leicht bekleidet, ihr roter Mund leuchtet knallrot, die langen schwarzen Haare sind von einem Wind verweht, der aus dem Nichts zu kommen scheint. Sie tanzt im Kreis, die Arme ausgebreitet, der Hintergrund ein dunkelblauer Vorhang, schwer und wuchtig. Als sie zu einem Sprung ansetzt, verblasst sie …

Ein Vogel schwebt über eine Ebene aus grauen Felsen und schroffen Eisgraten, die Flügel ausgebreitet, die Augen in die Ferne gerichtet. Er sieht groß aus, würdevoll und elegant, ein Herrscher der Lüfte, den nichts erschüttern kann. Dann aber fangen seine Federn, zu verschwimmen, sie lösen sich auf, und der Vogel verschwindet in einem Gestöber aus dunkelbraunen Punkten …

Simon lehnte sich in seinem Sessel zurück und hielt die Bilder an. Vor ihm glommen die Reste des Vogels, einzelne Punkte vor einem strahlend blauen Hintergrund, wie festgetackert in ihrer Bewegung. »Gar nicht schlecht bisher«, murmelte er.

Was hatte er bislang? Schnell ließ er eine Reihe von Bildern vor sich auftauchen, ein bunter Reigen, der flackerte und blinzelte, mit rasend schnellen Einstellungen und Blickwinkeln. Aus dem Vogel wurde wieder die Frau, diese verwandelte sich in ein stattliches Bauwerk, das in der Abenddämmerung rot leuchtete, und aus diesem wurde ein Mann mit Krawatte, der offenbar eine staatstragende Ansprache hielt, während im Hintergrund ein Gamelan-Orchester hektische Rhythmen hämmerte.

»Eine gute Abfolge«, lobte sich Simon selbst. In der Einsamkeit seiner Station führte er meist Selbstgespräche.

Das war ihm lieber als uferlose Diskussionen mit Leuten, die meinten, von seiner Arbeit mehr zu verstehen als er selbst. Er war gern allein – und doch war er es nicht. Er lebte zwischen den Datenströmen, die seit Jahrhunderten von der Erde ins All geschickt wurden.

Mit einer raschen Handbewegung schaltete er auf einen anderen Zugang, neue Bilder und Töne prasselten auf ihn ein, verschwommene Eindrücke, die durch die Hologramme tanzen, ein Reigen aus rot und schwarz, aus bunt und grau, verstümmelte Geräusche und klare Signale, Zeichentrickbilder und dreidimensionale Aufnahmen. Spontan griff Simon zu und holte ein Element nach vorne, dann noch eines.

Eine Maus mit großen runden Ohren, die eine knappe rote Hose trägt, springt durchs Bild; sie ist nur gezeichnet und bewegt den Mund hektisch, als sage sie etwas, aber es ist nichts zu hören. Sie scheint zu tanzen, dann macht sie einen Überschlag, die Bilder folgen schneller aufeinander, bis sie nur noch ein Schemen ist, der in einem Streifen aus bunten Farben zerfließt.

Aus einem dunklen Himmel fällt Regen, eine unaufhörliche Flut, die sich über das Land ergießt. Männer in schweren Rüstungen aus Eisen und Leder sitzen auf ihren Pferden, sie führen Schwerter und Spieße mit sich und blicken düster in die Ferne, wo eine Festung aus massiven Steinen in die Höhe ragt.

Simon richtete seine Sensoren aus, fischte weitere Bilder und Nachrichten aus einem unaufhörlichen Strom von Eindrücken. Er war angespannt und konzentriert, widmete sich intensiv seiner Arbeit. Gelegentlich sah er auf die rein technischen Daten seiner Umgebung.

»Im stabilen Orbit«, murmelte er.

Der Asteroid, auf dem er seine Station der Einsamkeit errichtet hatte, fiel seit Jahrhunderttausenden in einem unaufhörlichen Orbit dem Ereignishorizont eines Schwarzen Loches entgegen. Auf diesem Asteroiden hatte Simon vor gut zwei Jahren seine Station eingerichtet, wobei er die Reste alter Forschungseinrichtungen übernommen hatte.

Seither griff er mit den Sensoren der Station an den Ereignishorizont, in dem sich seit langem Impulse buchstäblich gefangen hatten, die von der Erde gekommen waren, nur wenige Lichtjahre entfernt. Das Schwarze Loch war weit genug entfernt von allen Welten und Sonnen, eines von zahllosen Schwarzen Löchern, die durch die Milchstraße trieben und von niemandem geortet werden konnte, tote Gebilde, die nur gelegentlich ein einzelnes Atom einfangen und verschlucken konnten.

»Mein Schwarzes Loch«, nannte es Simon. Er hatte ihm keinen speziellen Namen verliehen, und den technischen Begriff der Wissenschaftler ignorierte er.

In seiner Station wohnte er, auf seinem Asteroiden lebte er, von seinem Schwarzen Loch zehrte er. Alles seins – und die Nachrichten, die von der Erde und ihren Bewohnern über Jahrhunderte hinweg ins All gestrahlt worden waren, die am Schwarzen Loch gewissermaßen eingefangen, zerfetzt, neu gebündelt und auf eine Umlaufbahn durch die Ewigkeit geschickt wurden.

Mit seiner aktuellen Arbeit war Simon zufrieden. Noch einmal ließ er die Bilder und Töne in einem Schnelldurchlauf vor seinem Auge dahinfliegen. Dann sprach er einen kurzen Text darüber, den er so montierte, dass er zu Polarlichtern über dem Nordkap passte.

»Es sind Filme und Bilder aus der Vergangenheit«, sagte er ruhig, und er wusste, dass seine Fans seine ruhige Stimme mochten, »sie kommen aus einer Zeit, als die Erde noch anders war. Sie sind gestaucht und verbogen, sie werden neu sortiert und zusammengesetzt. Steigt mit mir ein – in ein neues Mixtape für die Ewigkeit.

Simon war ein Künstler, und seine Kunst bestand darin, die Vergangenheit in eine Kunst zu verwandeln, die den Menschen auf fernen Welten und in modernen Habitaten gefiel. »Mein Schwarzes Loch«, sagte er stolz, »mein Mixtape.«

Er kompilierte alles, er vereinte die Daten zu einer einzigen Datei. Mit einem Fingerdruck schoss er sie ab in die Unendlichkeit. Dann stand er auf.

Nachdenklich blickte Simon auf einen altmodischen Monitor, der eine Wand der Station bedeckte. Steine und Eisbrocken, kleine Asteroiden, ein Meer von kleinen Teilen – sie alle tanzten um das Schwarze Loch, um seine Heimat. Simon hob ein Glas mit einem schweren Rotwein, den ihm das letzte Versorgungsschiff gebracht hatte.

»Ich grüße dich, alte Erde«, sagte er und nahm einen kräftigen Schluck. »Auf dich, deine glorreiche Vergangenheit und auf meine Zukunft.« Dann schloss er die Augen, um wenigstens für einen Augenblick das unaufhörliche Flackern der Hologramme auszublenden.

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