Von meinem Platz am Fenster aus hatte ich einen guten Blick auf die Überlandstraße. Es herrschte ordentlich Verkehr. Schwere Lastwagen fuhren vorbei, überladene Minibusse, einige Autos, dazwischen Mopeds und Radfahrer. Auf den Gehwegen tummelten sich die Fußgänger. Über Nkhotakota brach gerade die Nacht herein, viele Leute waren offensichtlich auf dem Heimweg.
Ich saß an einem schlichten Holztisch, an dem ich mein Abendessen zu mir genommen hatte. Der Teller war so gut wie leer, ich tunkte noch den Rest Soße mit einem Stück Weißbrot auf. Meine Bierflasche hatte ich erst zur Hälfte geleert. Ich hatte vor, nach dem Essen ein wenig sitzenzubleiben und auf die Straße zu schauen, bevor ich mich wieder ins Getümmel stürzte. Bezahlt hatte ich schon, man hatte mich gleich abkassiert.
»Entschuldigen Sie«, sprach mich auf einmal ein Mann an, der am Tisch neben mir saß. Seine Kopfbedeckung und seine eher arabisch anmutende Kleidung wies darauf hin, dass er Muslim war. Wer sich in Malawi zum Islam bekannte, trug gern Kleidung, die eher nach Nord- und weniger nach Ostafrika oder gar Europa aussah. »Ich sah, dass Sie mit dem Essen fertig sind, und …« Er lächelte freundlich.
Ich lächelte zurück. »Bitte. Gern.« Ich mochte es, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, wenn ich schon durch ein Land reiste, das ich als fremd empfand.
Jeder von uns blieb an seinem Tisch, jeder mit seinem leeren Teller und einem Getränk vor sich. Der Mann hatte ein Glas Wasser, ich eine Flasche Bier. Wie im Klischee, dachte ich.
Er fragte mich, woher ich komme, und ich erzählte in wenigen Sätzen von meiner Herkunft und von meiner Reise durch Malawi. Als er mich fragte, wie es mir gefalle, gab ich eine ehrliche und sehr positive Antwort. Ich musste mich dafür nicht verbiegen, den Aufenthalt in Malawi fand ich bislang sehr abwechslungsreich und angenehm.
Auch ich fragte ihn nach seiner Arbeit. Er sei Helfer in der örtlichen muslimischen Gemeinde, erzählte er. Wenn ich ihn richtig verstand, war er kein Imam, auch wenn er gelegentlich ein Gebet anleitete, sondern unterstützte den örtlichen Imam bei all seinen Tätigkeiten.
»Es gibt viel Armut in unserem Land«, sagte der Mann zurückhaltend.
Mir war nicht klar, welche Reaktion er von mir erwartete. »Das stimmt«, gab ich zu. »Viele Leute sind arm.«
Ich wusste, dass Malawi erst kürzlich eine Hungersnot in den nördlichen Landesteilen bewältigt hatte. Viele Menschen waren unter anderem deshalb gestorben, weil die Regierung – so sagte man – im Jahr davor auf Druck der ausländischen Partner einen Teil der Ernte ins Ausland verkauft hatte, um Staatsschulden zu bezahlen, und damit war nicht genug für die eigene Bevölkerung geblieben. Gleichzeitig grassierte Aids, in manchen Dörfern starb die halbe Erwachsenenbevölkerung weg.
Der Mann erzählte mir, wie sie in der Gemeinde versuchten, den Armen zu helfen. Es gab wohl eine Art Armenspeisung, die offensichtlich von Spendern aus dem Ausland finanziert wurden. Womöglich waren es die gleichen Spender, die dafür sorgten, dass überall im Land neue Moscheen gebaut wurden.
»Man muss den armen Menschen helfen, damit sie aus der Armut herauskommen«, sagte der Mann.
Ich pflichtete ihm bei. Glücklicherweise sei Malawi zwar ein armes Land, aber es gäbe keinen Krieg, alles sei friedlich. Kein Vergleich zu manch anderem Land.
»Viele Leute hier machen Europa und Amerika für unsere Probleme verantwortlich«, sagte er. »Und sie sagen, dass wir im Krieg sind. Europa und Amerika führen Krieg gegen uns.«
Vorsicht!, dachte ich. Ich muss echt aufpassen!
Es war nicht die erste Diskussion bei einer meiner Reisen nach Afrika, in der ich auf einmal in die Rolle gezwungen wurde, die Politik des sogenannten Westens zu verteidigen. Daheim hatte ich kein Problem damit, unsere politischen Führungen zu kritisieren; in Afrika tat ich mich damit schwer.
»Das kann man so nicht sagen«, widersprach ich höflich. »Es gibt Probleme, aber die Europäische Union und auch Deutschland unterstützen doch viele Entwicklungsprojekte.«
»Das schon. Aber sie festigen damit nur unser Abhängigkeit von euch. Und das mögen die Leute immer weniger, das wird sich rächen.« Er klang besorgt, nicht aggressiv, als ginge es ihm um die Probleme des reichen Westens. »Sehen Sie die Türme in New York, das war eine Folge Ihrer Politik. Also nicht die von Ihnen als Person, sondern die von Europa und Amerika.«
Er benötigte einige Sätze, um mir seine Weltsicht zu erläutern. Ich blieb still und unterbrach ihn nicht, vor allem aber deshalb, weil er durchgehend ruhig und höflich blieb. Meine Sicht auf den 11. September, auf den Terroranschlag in New York war offensichtlich völlig anders als der seine.
»Sie müssen das so sehen«, argumentierte er, »für viele Leute war das Attentat eine Revanche, eine Rache für die jahrzehntelange Politik, die der Westen in aller Welt betreibt. Jeden Tag sterben Menschen, weil Ihre Politiker das so wollen, und diesmal haben einige zurückgeschlagen.« Er hielt inne, dann wiederholte er es. »Es ist wie eine Art Revanche.«
Es war das erste Mal, dass ich diesen Standpunkt hörte. Der Tag, den die Amerikaner schlicht als »Nine Eleven« bezeichnete, lag nur einige Wochen zurück. Ich hatte nicht damit gerechnet, im November 2001 auf den September 2001 angesprochen zu werden.
»Aber es war doch Mord«, wandte ich ein. »Mord und Terror, und es starben Tausende von Menschen.«
»Das stimmt. Aber war es wirklich so viel anders als das, was das reiche Europa mit seiner Politik in Afrika und sonstwo anrichtet?«
Wir wurden keine Freunde an diesem Abend, aber wir stritten uns auch nicht. Wir diskutierten das Thema ebensowenig zu Ende. Er musste bald zu seiner Gemeinde zurück, wie er mir sagte, und wir trennten uns mit einem Handschlag und einer kurzen Verneigung.
Ich blieb an meinem Tisch stehen und betrachtete mein Essen. Seine Sicht der Dinge war nicht die meine, aber er hatte sie klar vermittelt. Ich konnte ihm nicht böse sein. Er hatte den Terroranschlag nicht verteidigt, mir aber gezeigt, warum ihn manche Leute nicht ablehnten.
In Gedanken ging ich zur Kasse, wo ich mir eine weitere Flasche Bier kaufte. »Alles in Ordnung?«, fragte der Jugendliche mit Baseballkappe, der hinter dem Tresen stand, nachdem ich bezahlt hatte.
Ich nickte. »Alles in Ordnung.«
Er wünschte mir einen schönen Abend, und ich ging. Mein Bier trank ich unweit des kleinen Restaurants. Ich saß auf einem großen Stein, betrachtete den Verkehr auf der Straße und nahm immer wieder einen Schluck. In meinem Kopf hallte ein Halbsatz. »Wie eine Art Revanche.«
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