26 April 2022

Kids am Dom

»Was machen die da eigentlich?« Ich wies auf die Kinder, die sich auf der Wiese tummelten. »Das ist ein Spiel, schon klar, aber ich kapier’s nicht.«

Sie waren vielleicht zehn, zwölf Jahre alt, höchstens, und einige sogar jünger. Ein Mädchen stand unter dem großen Baum, die anderen hatten sich ihm gegenüber gruppiert. Die Kinder riefen etwas, das ich auf die Entfernung nicht verstehen konnte, das Mädchen drehte sich um und zählte. In der Zeit bewegten sich die Kinder vorwärts. Dann stand das Mädchen wieder so da, dass es ihnen entgegengucken konnte, und alle Kinder erstarrten.

»Wie viele Schritte gibst du mir – so heißt das Spiel«, gab Bobbele zur Antwort. »Kennst du das nicht?«

»Zumindest kommt es mir nicht bekannt vor.« Ich setzte die Dose an und nahm einen kräftigen Schluck Bier. »Erklär’s mir!«

»Klasse.« Er verzog das Gesicht. »Jetzt bin ich nicht nur Fremdenführer, sondern werde auch noch Spieleerklärer.«

Es war ein warmer Spätsommertag. Ich war beim Versuch, per Anhalter aus dem Schwarzwald nach Köln zu kommen, von einem übereifrigen Autofahrer an einer unglücklichen Stelle an der Autobahn rausgelassen worden. Und weil der nächste Fahrer, der mich aufsammelte, nach Worms hineinfuhr, hatte ich beschlossen, mir die alte Kaiserstadt einmal anzusehen. Ich war gut in der Zeit, und in Köln wartete kein Stress auf mich.

Von den Nibelungen und anderen Sagengestalten hatte ich in der Stadt praktisch nichts gesehen, vor allem eine karge Fußgängerzone wahrgenommen. In der Nähe des Doms war ich auf Bobbele gestoßen. Er war ein wenig älter als ich und hatte vor allem schon einiges mehr in seinem Leben getrunken. Die bunten Haare hingen herab, seine Lederjacke war zerschlissen und roch leicht streng.

Er erwies sich als ein freundlicher Zeitgenosse. Ich gab ihm ein Bier aus, er gab mir ein Bier aus, und dann saßen wir nebeneinander auf einer Parkbank beim Dom, der wirklich sehr eindrucksvoll aussah, redeten ein wenig, genossen die Sonne und sahen den Leuten zu. Zwischendurch kaufte ich in einem nahegelegenen Supermarkt, in dem er Hausverbot hatte, neues Bier. So konnte man es aushalten, so konnte ich die triste Realität des Jahres 1984 – zwischen Abitur und Bundeswehr – ganz gut vergessen.

»Also – was ist jetzt?«, fragte ich. »Was machen die Kinder hier?«

»Wieviel Schritte gibst du mir … Also: Ein Kind ist quasi die Mutter oder der Kaiser, je nach Spielart. Es steht vor den anderen. Eines von denen ruft. ›Wieviel Schritte darf ich gehen?‹ Das Mutterkind ruft dann zurück, wieviel es erlaubt. Einen Schritt, zwei Schritte, irgendsowas. Das nehmen die anderen Kinder auf, das Mutterkind dreht sich um, und die anderen bewegen sich. Es zählt und …«

»Wie?«, unterbrach ich. »Das eine Kind befiehlt quasi, wie die anderen sich zu verhalten haben? Und die müssen dann stehenbleiben, wenn es möchte, und können sich bewegen, wenn sie die Erlaubnis haben?«

»Genau.« Bobbele nahm einen Schluck Bier. »Die Kinder versuchen alle nach vorne zu kommen, auch wenn sie nicht dürfen. Wer einen Fehler macht, wird an die Startlinie zurückgeschickt. Also versuchen alle, zu tricksen und zu täuschen. Sie tarnen sich beispielsweise, indem sie hinter den größeren Kindern stehenbleiben. Und am Ende rennen alle, wenn sie die Chance dazu haben. Ich guck‘ da öfter zu, und es gibt unterschiedliche Arten, das Spiel auszulegen.«

»Ein seltsames Spiel. Und völlig willkürlich, wenn ich das richtig kapiert habe.«

»Wie das wirkliche Leben.« Bobbele rülpste leise. »Man kämpft sich voran, aber wenn man so richtig Erfolg haben will, muss man tricksen und täuschen. Wenn man sich ordentlich verhält, kann man aber auch zurückgeschickt werden und muss von vorne anfangen.«

»Ein Sinnbild für die moderne Gesellschaft.« Ich seufzte. »Wir sind echt zwei Philosophen.« Ich nickte zum Dom hinüber. »Vielleicht ist es aber christlich zu verstehen.«

»Übertreib’s mal nicht!«

»Doch, echt! Man bemüht sich im Werk Gottes, man kämpft sich nach vorne, man ist immer vorsichtig und will nichts falsch machen. Am Ende winkt einem theoretisch das Himmelreich, praktisch aber wird man immer wieder zurückgeschleudert und fängt in der gleichen Scheiße erneut an.«

»Mann!« Bobbele wirkte begeistert. »Du hast es ja echt drauf. Du solltest studieren und Pfarrer werden.«

Wir lachten beide und stießen die Bierflaschen gegeneinander. Das konnte ja noch ein heiterer Nachmittag werden im Schatten des Doms von Worms …

 

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