23 Februar 2022

Starker Roman über die Wendejahre in Dresden

Der Sommer 1989 in Leipzig: Jugendliche treffen sich im Freibad, sie trinken miteinander, sie hören Musik, sie verlieben sich. Und auch wenn sie politisch nicht aktiv sind, bekommen sie mit, dass etwas in der Luft liegt. Das Land ändert sich, die Bürgerinnen und Bürger streben nach persönlicher Freiheit.

Und ein Jahr danach stehen sich die Jugendlichen, die ehemals in die gleichen Schulen gegangen sind, mit Steinen und Knüppeln auf der Straße gegenüber: Die Baseballschlägerjahre haben angefangen, der Terror der Neonazis erschüttert die Städte und Dörfer in der Noch-DDR.

Ich habe endlich den Roman »89/90« des Schriftstellers Peter Richter gelesen. Das Buch erschien bereits 2015 im Luchterhand-Verlag als Hardcover-Band, und ich bedauere keine Sekunde lang, dass ich den Wälzer durchschmökerte. Er ist dicht erzählt, bleibt meist aber sehr eng an der Hauptfigur und stellt aus deren Sicht die letzten Monate der DDR dar, den Niedergang des Arbeiter- und Bauern-Staats, die Demonstrationen, die Öffnung der Mauer, die spätere Wiedervereinigung.

Der Autor weiß offensichtlich, wovon er schreibt. Die Beschreibungen des DDR-Lebens, untermalt durch gelegentliche Fußnoten, sind dicht, und alles wirkt durchgehend echt. Trockene Beschreibungen und gelungene Dialoge treiben die Handlung voran, die Figuren sind glaubhaft und in ihrer jeweiligen Entwicklung dem Leser bei der Lektüre immer sehr nah. Überzeugend!

Sein Held – es ist eine Ich-Erzählung – ist mir streckenweise allerdings zu schlau. Er hört die »richtigen« Bands, weiß sehr gut Bescheid über das internationale Musikgeschehen und liest anspruchsvolle Literatur. Wie das zu einem Jugendlichen passt, der verzweifelt versucht, in der zusammenbrechenden DDR einen moralischen Kompass zu bewahren, weiß ich nicht so recht. Aber damit kann ich gut leben, der Roman funktioniert ja trotzdem.

Was wirklich nervt, ist die pseudoliterarische Art, die Namen von Figuren abzukürzen. Man spricht da nicht mit einem Karl oder einem Peter, sondern immer nur von K. oder von P. – das wirkt so, als ob der Autor mit aller Gewalt versuchen würde, seinen eigentlich klar erzählenden Text zu literarisieren. Das hat er eigentlich nicht nötig, das ist doch reine Effekthascherei!

Sieht man von den kleinen Schönheitsfehlern ab, die es bei jedem Buch gibt, ist »89/90« großartig. Der Roman ist spannend, er reißt mit, er enthält auch ein wenig Action, und er ist immer mal wieder humorvoll und selbstironisch. Große Klasse!

2 Kommentare:

Enpunkt hat gesagt…

Ich habe die Hardcoverausgabe von »89/90« gelesen und hier rezensiert; hier ist der Link zur Taschenbuchausgabe, wo es noch eine kleine Leseprobe gibt:
https://www.penguinrandomhouse.de/Taschenbuch/8990/Peter-Richter/btb/e505473.rhd

Christina hat gesagt…

100-prozentige Zustimmung. Meiner Meinung nach eines der authentischsten Bücher über die Wendezeit in der DDR, die je geschrieben wurden.