02 Februar 2022

Im Kindererholungsheim

Ich fand selbst, dass ich irgendwie falsch aussah. Wie verloren stand ich in einem großen Raum, umgeben von Kindern und Jugendlichen. Die meisten wirkten ebenso verunsichert wie ich. Wir waren mit dem Zug und mit dem Bus angekommen, einige waren von ihren Eltern gefahren worden – und nun standen oder saßen wir in einem Raum, dessen Fensterfront nach Süden ging. Ich sah grüne Hügel, einen Wald und dahinter erahnte ich die Gipfel der Alpen.

Eine ältere Frau stand auf einmal in der Runde, sie klatschte in die Hände. »Kinder!«, rief sie laut. »Herzlich willkommen im Kindererholungsheim St. Hubertus.« Einige Aussagen zu dem Kinderheim folgten, dann sollten wir uns setzen.

Weil ich mich unsicher fühlte, platzierte ich mich an einen Tisch am Rand. Allein und mit meiner kleinen Tasche saß ich da. Mein Koffer wartete irgendwo im Flur auf mich. Wir schrieben den Anfang des Jahres 1977, und ich war zum ersten Mal ohne meine Eltern auf einer größeren Reise.

Der Arzt hatte mir eine »Erholung« verschrieben, auch deshalb, weil ich so dünn war. »Bei dir kann man ja die Rippen zählen«, hatte eine Nachbarin im Sommer des vergangenen Jahres gespottet. Tatsächlich war ich dünn und lang, ein in die Höhe geschossener Junge, der nicht wusste, wohin er mit seinen ihm selbst unheimlichen Energien eigentlich sollte.

An einem Nachbartisch hatten sich einige Jungs niedergelassen, die in meinem Alter waren, vielleicht sogar ein wenig älter, möglicherweise sogar schon 14 oder gar 15. Ich beneidete sie glühend, weil sie Jeans trugen und ihre Haare leicht über die Ohren fielen.

Im Gegensatz zu ihnen war ich geschniegelt und gestriegelt. Meine Eltern hatten mich zwei Tage zuvor noch zum Frisör geschickt, und ich trug einen Anzug, wie ich ihn sonst in der Kirche anhatte. Ich hatte das Gefühl, dass mich alle anstarrten. Aber wahrscheinlich guckten alle so wie ich durch die Gegend und taxierten die anderen.

Nur nicht die Jungs am Nachbartisch, die sich teilweise schon zu kennen schienen. Sie scherzten und lachten. Zwei von ihnen sahen sich ähnlich, und ich vermutete, dass sie Brüder waren. Zu ihnen hatten sich zwei andere Jungs gesellt. An diesem Tisch schien sich die erste Clique des Kindererholungsheims zu bilden.

Die ältere Frau war mit ihren allgemeinen Informationen, die ich sofort vergessen hatte, bereits am Ende. »Es gibt einige Fragen, die ich euch noch stellen muss«, sagte sie. »Das hilft uns, euch besser auf die Zimmer zu verteilen.« Sie fragte nach der Religion. Bei der Frage nach »evangelisch« streckte etwa die Hälfte der Finger eine Hand hoch, bei »katholisch« war es die andere Hälfte. »Sonst noch jemand, den ich vergessen habe?«, fragte die Frau. Es klang nicht unfreundlich, eher ein wenig ungeduldig.

Schüchtern streckte ich die Hand. Am anderen Ende des Saals saß ein schwarzhaariger, sehr blasser Junge, der ebenfalls die Hand hob. Wie sich herausstellte, war ich als einziger neuapostolisch, und er sagte, er sei »Atheist«. Bereits damit war klar, wer die beiden Sonderlinge sein würden – wobei das Thema Religion im Verlauf der nächsten Wochen keine große Rolle spielen sollte.

Man steckte uns gemeinsam in das einzige Zweibettzimmer des »Jungen-Flurs« im ersten Stock, direkt neben dem Aufenthaltsraum der Aufsicht. Die vier Jungs vom Nachbartisch kamen gemeinsam in ein Vier-Bett-Zimmer, andere Kinder wurden in Sechs-Bett-Zimmer gesteckt. Ich beneidete sie erneut, denn ich wollte nicht schon wieder ein Außenseiter sein. Vor allem fand ich meinen Zimmerkameraden seltsam – er mich wahrscheinlich auch.

So begannen meine Wochen im Kindererholungsheim. Ich wusste nicht, was auf mich zukommen würde, und ich ahnte vor allem nicht, dass diese Wochen mein Denken und Fühlen ziemlich gründlich umpflügen sollten.

Als ich nach der Zeit im St. Hubertus zurück zu meinen Eltern kam, hatte ich zwar nicht zugenommen – das Essen war echt nicht gut –, sondern war dünner als zuvor. Aber ich hatte einiges über mein weiteres Leben gelernt …

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