10 Februar 2022

Der große Blonde

Auf einmal stand der Junge bei uns in der Klasse. Er war groß und blond und sah ein wenig verunsichert aus. »Das ist Vitalli«, sagte unser Lehrer. »Er kommt aus Russland, und er gehört ab sofort zu unserer dritten Klasse.«

Ich ging in die dritte Klasse unserer Grundschule, wir waren 39 Kinder in der Klasse, und mit Vitalli wurden wir 40. Er war der erste »Ausländer«, der für mich zu einem Mitschüler wurde. 1973 war das noch etwas Besonderes. Die meisten Kinder in der Schule redeten Schwäbisch, vor allem diejenigen, die auf unserer Seite und in der Mitte des Dorfes wohnten. Bei den Kindern aus dem Neubaugebiet gab es einige, die Hochdeutsch sprachen; die fanden wir seltsam.

Vitalli sprach deutsch, was uns verwunderte, und er beharrte darauf, ein Deutscher zu sein, »halt aus Russland«. Seine Heimatstadt war Riga, aber darunter konnten wir uns nichts vorstellen. Viel erzählte er nicht, wir waren auch nicht sonderlich interessiert daran, und seinen Akzent fanden wir nur am Anfang anstrengend und verwirrend.

Weil er groß war, wählte ihn jeder gern in die Fußballmannschaft, wenn es darum, ein Spiel zu gelingen. Vitalli bewegte sich ein bisschen ungelenk, er war nicht geschickt am Ball, aber er war wegen seiner Körpergröße schnell und ließ sich nur selten umwerfen. Schnell integrierte er sich in die Klasse. Dass er aus Russland stammte, beschäftigte mich keinen Augenblick länger als nötig.

Bis sich Vitallis Mutter mit der meinen ein wenig anfreundete. Beide verdienten ihr Geld als Putzkräfte in Firmen; sie fuhren oft mit dem letzten Bus aus der Kreisstadt ins Dorf und kamen miteinander ins Gespräch. Sie waren in etwa gleichalt, und so blieb es nicht aus, dass die eine Mutter die andere Mutter auch einmal zum Kaffee einlud.

An einem Nachmittag kam meine Mutter völlig verstört von ihrem Besuch zurück. Die beiden Frauen hatten sich ihre Erinnerungen an den Krieg erzählt. »Panzer und Tote, solche Sachen halt, und nach dem Krieg wurden sie jeden Tag geschlagen, ein Elend über viele Jahre hinweg«, fasste sie den Besuch zusammen.

So endete die beginnende Freundschaft bald. Die Erinnerungen der beiden Frauen sollten nicht geteilt werden, sie konnten sich nicht über Bomben und Tod unterhalten, ohne von ihren eigenen Traumata eingeholt zu werden. Wenn sie über die Vergangenheit sprachen, was beim Dorftratsch unweigerlich der Fall war, kam der Krieg stets ins Spiel. Man hielt Kontakt, man grüßte sich, aber man ging sich aus dem Weg.

Und Vitalli und ich? Wir wurden keine Freunde. Wir stritten uns auch nicht. Aber weil sich unsere Mütter nicht verstanden, blieben wir distanzierte Schulkameraden. Und als wir in die fünfte Klasse kamen, wechselten wir auf unterschiedliche Schulen – um uns dann bald aus den Augen zu verlieren.

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