In vielen aktuellen Diskussionen stelle ich fest, wie sehr sich die Maßstäbe verschoben haben. Wenn dem neuen Führungs-Duo der Sozialdemokraten allen Ernstes unterstellt wird, seine zwei Angehörigen seien »links«, und während allerlei Journalisten ebenso ernsthaft behaupten, die Republik sei »nach links gerutscht«, kann ich mir nur ans Hirn fassen.
Die Republik ist, wenn man schon bei diesen heute kaum noch stimmenden Begriffen bleibt, sowohl nach links als auch nach rechts gerutscht.
Wer durch das Grundgesetz begründete Dinge, die etwa für eine Gleichstellung von Lesben und Schwulen mit Heteros sorgen, für »links« hält, kann natürlich von einem »Linksrutsch« des Landes reden. Wer alle Versuche, weitere Schritte in Richtung Gleichberechtigung für Frauen zu erreichen, als »links« betrachtet, für den leben wir offenbar schon in einer Räterepublik oder im Früh-Sozialismus.
Wer Windräder als »links« betrachtet, einen »Veggie-Day« pro Woche auf freiwilliger Basis als Bestandteil einer Verbotskultur ansieht und in jeder selbstbewussten Frau ein Zeichen für die Unterdrückung von Männern sieht, wird womöglich ein Problem mit der aktuellen Kultur haben. Ähnliches gilt für Menschen, die es als Reduktion ihrer Rechte betrachten, wenn sie nicht mehr rassistische Begriffe benutzen sollen.
Man könnte sagen, die Republik sei mehr in Richtung Gleichberechtigung gegangen. Ob man das unbedingt als »links« bezeichnen muss, weiß ich nicht. Zum Ausgleich ist das Land nämlich wirtschaftspolitisch nach rechts gerutscht – in einer Weise, die mich heute schwindeln lässt.
In den 80er-Jahren wurde für die 35-Stunden-Woche gekämpft; heute sind unbezahlte Praktika für junge Leute, eine irrsinnige Leiharbeit-Szene und eine 40-plus-Stunden-Woche völlig normal. In zahllosen Betrieben gibt es keine Betriebsräte mehr. Die Steuerlast für die untere Hälfte der Bevölkerung ist gestiegen, während die reiche Oberschicht immer weiter entlastet wird. »Hartzer« sind in vielerlei Kreisen eine verspottete Unterschicht, während sich die sogenannte Mittelschicht lieber mit den Reichen solidarisiert.
Moderate Forderungen nach Steuererhöhungen, um beispielsweise in die Nähe der unter Helmut Kohl geltenden Steuern für Reiche zu kommen, werden mit massivem Druck abgelehnt. Um es klar zu sagen: Was unter Helmut Kohl in den 80er-Jahren als christdemokratische Wirtschaftspolitik galt, würde man heute als linksradikal geißeln.
Wir leben wirklich in seltsamen Zeiten. Aber in anderer Art und Weise, als uns suggeriert wird.
1 Kommentar:
Lieber Klaus,
mit deinem Beitrag sprichst du mir wirklich aus dem Herzen. Dieses ganze links-rechts Geschwafel, welches täglich in den Medien (und regelrecht bescheuert in den Kommentarspalten der Online-Medien)die mediale Luft verpestet, führt zu nichts. Was in meinen Augen vernünftig ist, wird immer wieder als links(-radikal) oder gar sozialistisch bezeichnet, während längst vergessen geglaubter Chauvinismus, Rassismus und neuerdings auch verstärkt wieder Faschismus sich in unserem Land, als angebliche Alternative verkleidet, anzubieten versucht. Die NPD, für deren ersten Verbotsantrag ich einer der 50 Erstunterzeichner war, will sich jetzt umbenennen, um zu verwischen, was hinter ihrer nationalen Fassade wirklich steckt.
Mich erschreckt das, habe ich mich persönlich lange Jahre sehr öffentlich "gegen Rechts" engagiert. Ich bin zwar nicht auf vielen Demos gewesen und habe nie zu einem linksradikalen oder gar autonomen Block gehört, aber ich habe eine "Gesellschaft gegen das Vergessen und für die Toleranz" in einer ehemaligen Heimatstadt mitbegründet, genauso wie ein "Bündnis gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt". Ich habe mich, lang ist's her, als Juso-Vorsitzender einer rheinischen Kleinstadt für die Einführung der "Lebenspartnerschaft" für homosexuell orientierte Mitmenschen stark gemacht und nicht wirklich einen spürbaren Rückhalt der "Alten" in der Partei dafür erfahren. Gut, dass sich die Vernunft damals doch durchgesetzt hat und heute die "Ehe für Alle" endlich normal ist. Liebe kann schließlich nicht falsch sein (es sei denn, sie ist ausbeuterisch).
Letztlich habe ich die SPD nach vielen Jahren aktiver lokalpolitischer, ehrenamtlicher Arbeit demotiviert verlassen und bin seit ein paar Jahren zahlendes, still unterstützendes Mitglied der Grünen.
Ich schreibe als Autor gegen Hass und Hetze mit Gedichten und Texten zusammen mit Autor*innen, die sich im Verein "Sternenblick" in der Autorengruppe "Dichter für Toleranz" mit den oben genannten Themen auseinandersetzen. Meine paar Gedichte dazu gibt es auf meiner Homepage zu lesen. Im Moment steht, nicht nur in unserem Land, sehr viel auf der Kippe, sei es das Klima (In mehrerlei Sinn), aber auch unserer relativ freien, demokratischen Gesellschaftsform.
Schön, dass ein Chefredakteur einer ansonsten nach außen unpolitischen Redaktion so mutige Worte findet(ich denke, als "Enpunkt" zu schreiben, macht auch klar, dass es hier um deine persönliche Sichtweise geht).
Das gibt mir ein Bisschen Vertrauen darin zurück, dass es noch Hoffnung gibt, dass das in meinen Augen Gute und Richtige sich letztendlich doch durchsetzten wird.
Danke also für deinen Beitrag.
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