05 Januar 2020

Eine weiße Hand

Eine phantastische Kürzestgeschichte

Wie kleine weiße Würste sehen sie aus, dachte ich und starrte auf die Finger vor mir. Die Nägel waren sauber geschnitten, die Haut wirkte gut gepflegt. Entweder hatte der Mensch, zu dem diese Hand gehörte, nie körperlich hart arbeiten müssen oder er – oder sie – hatte die Finger stets sehr gründlich gepflegt.

Ich betrachtete die Fingerkuppen. Was mir wohl die Fingerabdrücke verraten würden? Könnte ich Geheimnisse auslesen, wenn ich sie in einen Computer der Polizei einspeiste? Waren es die Finger eines Verbrechers oder einer Verbrecherin? Steckte hinter ihnen ein treusorgender Ehemann, eine liebevolle Mutter oder ein brutaler Mensch, der andere Menschen misshandelt und terrorisiert hatte?

Das wusste ich nicht, und ich würde es nie erfahren. Mich reizten Geheimnisse allerdings schon immer. Wenn ich auch nur andeutungsweise eines wahrnahm, dachte ich ständig daran und versuchte, weitere Informationen zu erlangen, die mir das Tor zu weiteren Geheimnissen öffneten.

Doch an diesem Tag war das nicht sinnvoll. Ich musste handeln, ich durfte nicht zögern, und ich durfte vor allem nicht zu lange nachdenken.

Ohne mich zu rühren, starrte ich auf die weißen Finger, die sich reckten und streckten. Die Gelenke schienen wie eingerostet zu sein, alle Bewegungen verliefen langsam und zäh, jeder Griff wirkte wie ein Kampf um Millimeter. Wie eine Maschine, die eingerostet war und erst langsam wieder in Gang kam. Es würde allerdings nicht lange dauern, bis sich die Hand besser bewegen konnte, bis ein Arm folgen würde, eine zweite Hand, vielleicht ein Körper.

Ich ließ meinen Blick schweifen. Der Friedhof war groß, der Vollmond ließ ihn wie ein Meer aus Steinen und Stelen, aus Büschen und Bäumen erscheinen. Das Grab vor mir war nur eines von vielen, die frisch waren, und ich hatte die Befürchtung, dass es nicht das einzige sein würde, in dem sich in dieser Nacht etwas regte, das besser für alle Ewigkeit in der Erde geblieben wäre.

In der Ferne begannen die Kirchenglocken zu läuten. Die Hand vor mir reckte sich weiter nach oben. Ich seufzte tief.

Dann griff ich nach dem Spaten, der neben mir lehnte, nahm ihn fest in die Hand und holte weit aus. So würde ich genügend Kraft entfalten können. Es wurde Zeit, dass ich dem Untoten in der Erde klarmachte, dass er ein weiteres Jahr in seiner unheiligen Ruhe bleiben musste.

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