12 Dezember 2022

Kein Sauerbraten

Auf einmal stand der junge Mann am Tresen und sprach einen der Kellner an, der gerade einen Tisch abräumte und ein Tablett mit Gläsern abstellte. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er sehr höflich. »Haben Sie keinen Sauerbraten mehr?« Er hatte einen Vollbart und kurzgeschnittene Haare, trug eine sehr helle Hose und weiße Schuhe, dazu einen hellen Pullover, angesichts des grauen Wetters vor der Tür eine mutige Wahl der Kleidung.

Der Kellner sah ihn an, offensichtlich einen Augenblick verwirrt. »Sauerbraten?«, fragte er dann zurück. »Warum? Der steht doch nicht auf der Karte.«

Weil wir an der Theke saßen, bekamen wir manche Dinge besser mit, als wenn wir einen Tisch in der Ecke gehabt hätten. Das fand ich spannend. Ich löffelte meine Kartoffelsuppe, ich trank mein Bier, und ich lauschte dem Gespräch über den Sauerbraten.

Im »Fränk'ness«, einem Lokal in der Innenstadt von Nürnberg, das sehr hell und großzügig wirkte und dessen Ausstattung sich als eine Mischung aus Industrie-Design und lockerem Restaurant präsentierte, hatte ich allerlei Fleischgerichte auf der Karte entdeckt und war als Vegetarier ein wenig ins Grübeln geraten. Einen Sauerbraten hatte ich nicht bemerkt, aber ich hatte auch nicht danach gesucht.

»Ich war schon einmal bei Ihnen«, erzählte der junge Mann bereitwillig. »Da hatte ich einen wunderbaren Sauerbraten. Und wir sind heute deshalb hier, weil ich meinen Freunden von Ihrem Sauerbraten vorgeschwärmt habe.«

»Wann war das?«, hakte der Kellner nach, der sich offenbar auf das Gespräch einzustellen begann.

»Vor drei Jahren.«

»Aha. Vor drei Jahren also …«

Der junge Mann wurde unsicher. »Es kann auch vier Jahre her sein.«

Ich sah mich um. Das Lokal sah nicht einmal aus, als ob es so alt sein könnte. Aber er musste es ja wissen.

»Wir haben keinen Sauerbraten auf der Karte«, sagte der Kellner. »Also können wir keinen Sauerbraten anbieten.«

»Aber vor vier Jahren …«

»Na ja, wir wechseln die Karte schon gelegentlich.«

»Also gut.« Der junge Mann war enttäuscht. Das konnte man ihm ansehen. »Ich will nicht unhöflich sein, aber dann gehen wir jetzt. Wir sind ja nur wegen des Sauerbratens hier.«

Der Kellner verzog keine Miene. »Wie Sie wünschen.«

Während ich meine Kartoffelsuppe löffelte, die sehr gut schmeckte und in Verbindung mit dem Sauerteigbrot den Magen angenehm füllte, ging der junge Mann an einen Tisch im hinteren Teil des Lokals. Mit seinen Begleitern – drei Männer mit Bart, eine junge Frau – verließ er dann das Lokal.

»Sauerbraten«, sagte der Kellner zu sich selbst. »Vor vier Jahren.« Er schüttelte den Kopf, dann räumte er weiter den Tisch ab.

2 Kommentare:

Enpunkt hat gesagt…

Natürlich ist diese Kürzestgeschichte frei erfunden, und es gibt keine Ähnlichkeit zu echten Personen. Das »Fränk'ness« ist aber wirklich nett. Wer gucken mag:
https://fraenkness.de/

Roland Rosenbauer hat gesagt…

Könnte sich aber so zugetragen habe - ich kenne meine Nürnberger ;-)