06 Oktober 2020

Am Morgen am Eichelberg

Ich wurde wach, weil mir jemand gegen das Bein stieß. »Du bist dran, Schütze Frick!« Die Stimme klang nicht einmal unfreundlich, trotzdem mit barschem Unterton.

»Was …?«, fing ich an, schreckte dann aber auf. Ich war von einem Augenblick zum anderen da und wusste, wo ich war. Vorsichtig richtete ich mich auf.

Mein Nebenmann schlief tief, ich wollte ihn nicht wecken. Die Klappe des winzigen Zelts – wir nannten die Dinger nur »Dackelhütten« – war schon wieder zu. Ich hatte zwischen fünf und zehn Minuten Zeit, aus dem Zelt zu kriechen und meinen Wachdienst anzutreten.

Vorsichtig tastete ich um mich. Ich lag in der Unterwäsche in meinem Schlafsack; die Winterklamotten hatte ich ausgezogen und um mich herum drapiert. Mein Gewehr hatte ich zwischen Pullover und Parka gepackt. Der Lauf der Waffe war warm, wie auch meine Kleidung.

Dabei war es bitter kalt. Ich spürte es an meiner Nasenspitze, und ich wusste, dass das Zelt durch zwei schlafende Männer ein wenig aufgeheizt war. Rasch zog ich mich an, so gut es im Schlafsack ging, dann öffnete ich ihn.

Die Stiefel hatte ich unter meine Füße gelegt. In der Dunkelheit meines Zeltes schüttelte ich sie vorsichtig aus, ein wenig Stroh rieselte zu Boden. Unser Zelt stand auf tiefgefrorenem Schnee, über den wir eine Schicht von Stroh gelegt hatten. Als Wärmedämmung hatte das tatsächlich ausgereicht.

Ich zog die Schuhe an, immer noch so leise wie möglich, und kroch aus dem Zelt. Hinter mir knöpfte ich die Klappe zu. Mein Kamerad schlief immer noch, ich hatte ihn nicht geweckt. Ein kurzer Blick auf die Uhr: Es war kurz vor vier Uhr, meine Wache begann.

Mein Atem stand als weiße Wolke vor meinem Gesicht, es war bitterkalt. Erstaunlicherweise fror ich nicht. Das Zelt war tatsächlich warm geblieben, und die guten Ratschläge der Unteroffiziere hatten alle geholfen.

Ich trat zur Feuerstelle in der Mitte des Camps. Dank der Glut erkannte ich den Leutnant, der dort stand, neben ihm den Soldaten, der vor mir Wache gehalten hatte. Ich entrichtete den militärischen Gruß, dann verschwand der andere Soldat, ein Obergefreiter der Stammtruppe. Der Leutnant gab mir einige Instruktionen – »immer schön bewegen!« –, bevor ich allein meine Runde drehen konnte.

Wir schrieben den Januar 1985, seit einigen Tagen war ich zur AMF abkommandiert. »Dort lernen Sie, wie man Krieg im Winter führt«, hatte der Chef meiner Kompanie gesagt, als er mir den Befehl dazu gegeben hatte.

Die Allied Command Europe Mobile Force, die man eigentlich nur als AMF abkürzte, war eine Art Eingreiftruppe der NATO, die im Ernstfall in der Türkei oder in Norwegen einen Angriff der Sowjetunion über die Flanken absichern sollte. Es gab auch deutsche Einheiten innerhalb der AMF, und bei einer davon war ich für zwei Wochen – inklusive eines lauschigen Zeltlagers bei minus 15 Grad.

Müde stapfte ich durch das Camp und an seinen Flanken umher. Es war stockfinstere Nacht. Das Gewehr hielt ich vorschriftsmäßig, und nach allen Regeln, die man mir eingehämmert hatte, sah ich mich ständig um. Eine Stunde sollte ich so herumbringen, von vier bis fünf Uhr morgens, eine ziemlich miese Schicht für eine Nachtwache.

Den Leutnant erblickte ich ab und zu. Er stand am Feuer, wo er immerhin Wärme von einer Seite bekam, und trank Kaffee. Ich beneidete ihn glühend, noch mehr beneidete ich allerdings die Kameraden, die in ihren Zelten lagen. Aus manchen Zelten kam ein leises Schnarchen, ebenso aus den zwei Lastwagen, unter deren Planen ebenfalls Leute schliefen.

Immerhin ging kein Wind. Trotzdem fühlte sich mein Gesicht langsam wie ein Eiszapfen an. Mein Körper war geschützt, meine Hände auch, aber das Gesicht lag frei. Ich zog den Schal ein wenig höher, so dass er zumindest mein Kinn bedeckte.

Irgendwann stand ich wieder bei dem Leutnant. »Ihre Wache ist gleich vorüber«, sagte er.

Ich nickte. »Gleich werde ich meinen Nachfolger wecken, dann gehe ich schlafen.«

»An Ihrer Stelle würde ich nicht noch einmal ins Zelt gehen.«

»Aber es ist fünf Uhr morgens!«

»Sie werden um sechs Uhr geweckt. Sie werden in dieser einen Stunde nicht vernünftig schlafen können und nachher völlig durchgefroren sein.«

»Aber ich bin hundemüde.«

»Denken Sie, ich nicht?« Der Leutnant grinste. Er war nicht viel älter als ich. »Sie machen Wehrdienst, oder?« Als ich nickte, fügte er hinzu. »Abiturient?«

»Ja. Merkt man das?«

»Immer.« Er lachte kurz. »Ich habe ja auch ein Abitur gebastelt. Wenn Sie wollen, teile ich Sie für morgen nacht zum Feindkommando ein. Das heißt aber, dass Sie da auch nicht viel schlafen können.«

Ich überlegte kurz. »Okay«, sagte ich. »Dann wecke ich den Kameraden und gehe schlafen.«

»Noch mal: Lassen Sie das. Ich gebe Ihnen da keinen Befehl, es ist Ihre freie Entscheidung: Bleiben Sie wach, stellen Sie sich hierher, rauchen Sie eine Zigarette.«

»Ich rauche nicht.«

»Dann gehen Sie in Ihr Zelt und frieren Sie.«

Wie recht der Leutnant hatte, merkte ich schnell. Zähneklappernd zog ich mich aus, fröstelnd kroch ich in meinen mittlerweile eiskalten Schlafsack. Ich packte das Gewehr in meinen Parka und zog es zu mir in den Schlafsack, ich drapierte meine Klamotten um mich herum. Es reichte nicht. Zitternd döste ich vor mich hin, konnte nicht mehr einschlafen.

Als die Truppe kurz darauf »richtig« geweckt wurde, ging es mir elend. Meine Füße waren wie Eisklumpen, die in steif gefrorenen Stiefeln keine Chance hatten, wieder warm zu werden. Ich ging auf und ab, ich trank heißen Tee, und ich freute mich dann später, als die Sonne herauskam und auf die verschneite Eislandschaft fiel.

Den Leutnant sah ich an diesem Tag stundenlang nicht mehr. Er konnte sich, nachdem er seine Nachtdienst hinter sich gebracht hatte, in ein beheiztes Fahrzeug legen und den Tag in wohliger Wärme verschlafen.

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