19 April 2008

Die Vielrednerin

Als die Frau in der roten Jacke die Straßenbahn bestieg, blickte ich kaum auf; ich las in einer Zeitschrift und wollte eigentlich nur noch heim. Aber dann hörte ich ihre Stimme, ihre im Stakkato hervorgestoßenen Worte, und ich mußte doch kurz hinschauen.

Sie sah unauffällig aus; rotblonde leicht lockige Haare umrahmten das das rundliche Gesicht. Aber sie redete ununterbrochen; sie redete, während sie an mir vorüberging, und sie redete, als sie sich schräg hinter mir niederließ.

»Das ist so ein Scheiß, sag' ich dir, und wenn der mir noch einmal quer kommt, dann kriegt der richtig Ärger.« So ging es los, und so sprach sie weiter, ohne Punkt und Komma und in badischem Dialekt, der sich in Schriftsprache nicht wiedergeben läßt.

Sie schimpfte auf Abwesende und sprach mit jemanden, den es offensichtlich gab. Ein Telefon oder sonst etwas, in das sie hineinsprach, gab es nicht. Sie saß auf ihrem Platz und redete vor sich hin, so laut, daß es garantiert jeder mitbekam.

Dann setzte sich ihr eine Frau mit Kind gegenüber, ich bekam es aus den Augenwinkeln mit. Die Frau mit den rotblonden Haaren sprach weiter, ohne sich um die beiden zu kümmern, eine einzige Abfolge von ohnmächtiger Wut und Zorn, von seltsamen Äußerungen, die zwar vernünftig klangen, aber keinen gesamten Sinn ergaben.

Der Mutter mit dem Kind schien es zu viel zu sein: Sie standen auf und wechselten auf einen anderen Platz. Die Vielrednerin schien irritiert. »Wieso setzt ihr euch um? Habt ihr Angst vor mir? Ich tu' euch nichts, und euer Geld will ich auch nicht. Da, guckt her, ich hab' noch zwanzig Euro in der Tasche.«

Die Mutter reagierte nicht. Ich schaute zu ihr hinüber. Sie starrte zum Fenster hinaus, als spiele sich im Karlsruher Nieselregen etwas unglaublich spannendes ab, und preßte ihr Kind eng gegen sich.

»Ich glaub', jetzt geht's los. Das Mißtrauen wird auch immer schlimmer, niemand vertraut einem mehr. So ein Mist aber auch.«

Der Europaplatz kam, und ich stieg aus. Die Mutter mit dem Kind verließ die Straßenbahn in einer Geschwindigkeit, als sei sie auf der Flucht.

Und die Frau in der roten Jacke redete weiter, als habe sich nichts verändert. Als die Bahn anfuhr, blickte ich zu ihrem Fensterplatz hoch. Ihr Mund bewegte sich hektisch, ihre Augen waren ins Leere gerichtet, ihr gesamter Körper wirkte ruhig und angespannt zugleich.

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