Eine phantastische Kurzgeschichte
Das große Tor öffnet sich, leise knirschend; ein Mann tritt langsam, ja, behutsam über die Schwelle. Er blinzelt kurz und hebt die Hand, als wolle er grüßen, irgendjemanden. Blass leuchtet ihm der Morgen entgegen, die Sonne erbricht ein wenig Licht ins Grau. Kleine Wellen laufen sich am feinen Sandstrand tot, und eine Möwe krächzt einen müden, rasch verebbenden Trauermarsch über die kleinen Schaumkronen. Es ist kalt.
Der Mann dreht sich um, wagt einen letzten Blick. Das Tor ist geschlossen, Stahl gegen Stahl und Stein gegen Stein und dazu ein bisschen Glas. Es glitzert, Licht tanzt auf feinen Beschlägen wie kleine Engel in der Nacht.
Er hüllt sich in seinen Mantel und geht auf den Strand zu; fröstelnd. Wind zersaust dünnes, blondes Haar, das bis in den Nacken fällt. Sein übriggebliebenes rechtes Auge tränt leicht, seine Lippen schmecken die Salzkristalle, die auf ihnen zerschmelzen. Kleine Tiere fliehen vor ihm, Käfer und Strandläufer, verstecken sich hinter Sandkörnern. Selbst sie scheinen zu fliehen, vom Wind getrieben.
Weint er? Die Möwe krächzt ein weiteres Mal und fliegt aufs Meer hinaus; direkt auf die blasse Morgensonne zu. Immer weiter. Irgendwann wird sie kraftlos ins Meer fallen und ertrinken. Und dabei wird sie vielleicht verwundert nach dem Warum fragen. In einigen Stunden.
Wasser umspült die Zehen des Mannes. Es ist nicht kalt, und es ist nicht warm, es kräuselt sich nur sachte. Er empfindet das Wasser als angenehm.
Er wünscht sich einen Bogen und drei Pfeile. Mit diesen könnte er die Sonne abschießen. Dann wäre alles gut. Wirklich alles. Beim Gedanken daran muss er lachen. Es klingt schrecklich hohl, und hinterher fließen nur weitere Tränen; das schmerzt erneut.
Locker baumeln die Hände. Ein starker Windstoß zerrt an seinem Mantel. Er lässt los, der Wind reißt und zieht, und dann fliegt der Mantel davon. Der Mann dreht sich nicht nach ihm um.
Jetzt ist er nackt. Und fröstelt noch mehr. Kalt ist es. Das Wasser empfindet er immer noch als angenehm, während er Schritt um Schritt vorwärts geht. Er weint.
Das heisere Lachen, das er hinter sich hört, ignoriert er. Auch das kreischende Geräusch, wenn Metall über Metall schleift. Das Wasser steigt ihm über die Hüften. Das Lachen endet abrupt mit einem Gurgeln. Dann kreischt wieder Metall über Metall.
Das Wasser scheint sich rot zu färben, der Gipfel eines schroffen Berges reckt sich der Sonne entgegen. Das Wasser hat den Hals des Mannes erreicht, er beugt sich nach vorne und nimmt einen Schluck. Nur einen. Lässt das Wasser auf der Zunge. Erst nach einem Moment schluckt er endgültig. Da schlägt auch schon das Wasser über ihm zusammen.
Jetzt ist er am Ziel. Die Frau, die ihm entgegen kommt, ebenfalls. Sie lächelt ihn an. Aus dem übriggebliebenen linken Auge. Verführerisch wirkt es. Ihr Mantel löst sich von ihren Schultern, rutscht langsam über die Hüften.
»Ich hörte den Schrei des Vergessens«, sagt sie leise, mit einem wehmütigen Lächeln in den Mundwinkeln.
Auch er lächelt jetzt, ähnlich. »Ich sah einen schwarzgekleideten Mann in einem dunkelroten Boot«, sagt er. »Und der See glänzte wie ein Spiegel.«
Sie schlingt die Arme um ihn. »Dann ist ja alles gut«, murmelt sie. Gibt ihm einen Kuss auf die Lippen. Er schmeckt das Salz. Sie verschmelzen miteinander.
Irgendwo krächzt die Möwe. Ein letztes Mal.
Nachbemerkt:
Die Geschichte »unten, und vergessen« schrieb ich bereits am 16. September 1984, in dieser Zeit zwischen dem Abitur und meiner Zeit bei der Bundeswehr, in der ich viel unterwegs war – per Anhalter – und nicht so richtig wusste, wie ich mein weiteres Leben gestalten sollte. Da hatte ich offenbar dann auch ein Interesse daran, Geschichten zu verfassen, die düster und kurz waren. Zu dieser Zeit entstanden zudem viele Gedichte.
Die Kurzgeschichte ging unter, ich vergaß sie. Am 30. Oktober 1993 griff ich sie auf und tippte sie mit meinem Computer ab. Am 27. September 2003 wurde sie auf die neue Rechtschreibung umgestellt; seither habe ich sie nicht weiter verändert.
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