29 Juni 2022

Ein Leben und eine Epoche

Ich kaufte mir den schmalen Roman mit dem knappen Titel »Mara« irgendwann in den 90er-Jahren, las ihn, stellte ihn ins Regal und vergaß ihn. Ich erinnerte mich nur noch daran, dass er mir gut gefallen hatte. Und weil ich dieser Tage Lust auf ein kurzes Werk verspürte und vor allem Lust darauf, etwas aus Russland zu lesen, griff ich zu dem Buch.

Gerade mal 112 großzügig bedruckte Seiten umfasst »Mara«; wer möchte, kann das Ding also eine Novelle oder eine lange Erzählung nennen. Als Autorin zeichnet Viktorija Tokarjewa verantwortlich, die seit den 60er-Jahren ihre Erzählungen und Romane veröffentlicht und zu den wichtigsten Autorinnen Russlands gezählt wird. (Wo sie politisch steht und wie sie sich zu aktuellen Ereignissen verhält, weiß ich nicht.)

In »Mara« geht es um eine junge Frau; sie wird mitten im Zweiten Weltkrieg geboren, wird in den Osten evakuiert, bekommt in Sibirien nur wenig vom Krieg mit. Ihr Vater stirbt, in Leningrad sieht sie dann deutsche Kriegsgefangene. Vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung (das Ende der stalinistischen Diktatur, die Zeit des Erwachens nach dem Tod des Diktators, die drögen Breschnew-Jahre, das Durcheinander der 80er-Jahre) erzählt die Autorin die Geschichte einer Frau, die nach Macht und Geld strebt.

Mare trifft Männer, sie benutzt sie, dann wechselt sie ihre Liebhaber und Eheleute aus. Dabei setzt sie ihr blendendes Aussehen als Vorteil ein. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht einer Freundin, die von Mara auch nur ausgenutzt wird, die Mara aber dennoch bewundert, ja, geradezu anhimmelt.

Viktorija Tokarjewa schildert eine beeindruckende Laufbahn: Es gelingt ihr, auf so wenigen Seiten nicht nur eine Figur in ihrer Vielschichtigkeit zu präsentieren, sondern auch ein Porträt der Sowjetunion über mehrere Jahrzehnte hinweg. Ihr Stil ist nüchtern und präzise, es gibt keine »spannenden« Szenen und auch keine Action, und trotzdem fesselte mich diese Geschichte auch beim zweiten Mal sehr.

Das schmale Buch behält seinen Platz im Bücherregal. Ich bin mir sicher, dass ich es in zehn oder zwölf Jahren wieder einmal lesen werde …

1 Kommentar:

Enpunkt hat gesagt…

Die Wikipedia hat nur einen sehr oberflächlichen Artikel über Viktorija Tokarjewa zu bieten, in dem »Mara« beispielsweise nicht einmal erwähnt wird. Hier:
https://de.wikipedia.org/wiki/Wiktorija_Samuilowna_Tokarewa