10 September 2018

Turbulent im Gottesdienst

Aus der Serie »Dorfgeschichten«

Ich war ein sehr kleiner Junge. Meine Schwester war ein Säugling, und ich hatte noch nicht das Alter erreicht, an dem man mich in den Kindergottesdienst stecken würde. Also ging ich dreimal in der Woche mit meinen Eltern in den Gottesdienst: sonntagmorgens, sonntagabends und mittwochabends. Man kämmte meine Haare, man zog mich »anständig« an, manchmal band man mir sogar eine Fliege um.

Für einen Jungen in meinem Alter war das nicht einfach auszuhalten. Ich tat, was meinem Bewegungsdrang entsprach, und tauchte ab: Bevor meine Eltern mich aufhalten konnten, war ich von der hölzernen Sitzbank geglitten und krabbelte zwischen den Beinen der Erwachsenen herum.

Mein Vater schnappte nach mir und zog mich zurück, setzte mich mit einer energischen Geste zwischen sich und meine Mutter. Da sollte ich bitteschön bleiben, hieß das.

Ich konnte das offenbar nicht verstehen und ergriff bei der nächsten Gelegenheit wieder die Flucht. Diesmal krabbelte ich unter eine Bank. Was ich dort suchte, weiß ich nicht mehr. Vielleicht gab es ein anderes Kind, vielleicht wollte ich einfach nur schauen, was sich auf der anderen Seite der Bank tat.

Mein Vater verlor offenbar die Geduld. Er schnappte mich ein weiteres Mal, hob mich hoch und trug mich aus dem Kirchenraum. Er zog die Tür hinter sich zu und ging mit mir in die Herren-Toilette. Damit waren zwei geschlossene Türen zwischen uns und dem Gottesdienst.

Dort gab's »den Hintern voll«: mehrere kräftige Schläge mit der flachen Hand auf den Hintern. Es tat weh, ich weinte.

Er wartete, bis ich mit dem Weinen aufgehört hatte, und ging mit mir in den Kirchenraum zurück. Der Chor sang gerade ein Lied, das Heilige Abendmahl stand bevor. Wir setzten uns in die Reihe, als sei nichts geschehen.

Jeder wusste, was geschehen war. So etwas war in den 60er-Jahren völlig normal. Und ich blieb den Rest des Gottesdienstes auf meinem Hintern sitzen, auch wenn das weh tat.

1 Kommentar:

RoM hat gesagt…

Sali, Klaus.
Wohl ein gemeinsames Merkmal vieler Religionen ist die Gleichschaltung - wehe dir, du tanzt aus der Reihe!
Und wie war das doch gleich mit: "Lasset die Kinder zu mir kommen..."?
Die Heuchelei mag auch eine grosse Gemeinsamkeit vieler Religionen sein.

bonté