Ab und zu sollte man sich Klassiker der Fantasy-Literatur genauer anschauen, um herauszufinden, wie das Genre eigentlich entstanden ist. Also griff ich mir »Das Mitternachtsvolk« des englischen Schriftstellers John Masefield (1878 bis 1963) und stellte fest, dass es wunderbar altmodisch ist und tatsächlich großen Spaß macht. In deutscher Sprache ist das Buch bei Klett-Cotta erschienen und antiquarisch noch gut erhältlich.
Hauptperson der Geschichte ist ein Junge, etwa acht Jahre alt. Kay Harker lebt in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Waise; seine Familie ist wohlhabend, also hat er Diener und vor allem eine Gouvernante. Die Gouvernante ist streng, sie unterrichtet ihn nicht nur, sondern versucht ihm auch Anstand, Moral und gute Sitten beizubringen.
Der Junge träumt dummerweise viel zu oft von Abenteuern und davon, die Welt zu bereisen. Das wird weder von seinem Vormund noch von der Gouvernante gern gesehen. Doch in einer Nacht steht auf einmal Nibsel vor seinem Bett. Die Katze des Hauses erweist sich als sprachbegabt und führt Kay – im Schlafanzug! – durch einen Geheimgang ins Freie.
Dort trifft Kay auf allerlei sprechende Tiere und stellt fest, dass es sogar Hexen gibt. Ganz in der Nähe seines Wohnhauses kann Kay das Mitternachtsvolk beobachten, das sich dort versammelt. Später reitet er auf einem Besen und gerät in Konflikt mit sieben Hexenschwestern. Und irgendwann wird klar, dass es die ganze Zeit um einen uralten Schatz geht, der angeblich mit Kays Vorfahren verbunden ist.
So entwickelt sich die Geschichte; ständig präsentiert der Autor neue phantastische Ideen. Bilder an der Wand verwandeln sich in dreidimensionale Gebilde, durch die man die Vergangenheit beobachten kann. Die Revolutionen in Südamerika zu Beginn des 19. Jahrhunderts werden auf einmal wichtig für die Gegenwart eines Jungen. Und die Suche nach einem Schatz wird auch zur Suche nach der Realität ...
Es fällt schwer, die Handlung zusammenzufassen – es passiert recht viel, und die Geschichte pendelt zwischen der Realität im alten Herrenhaus, der Phantasiewelt und irgendwelchen Träumen. Ritter der Tafelrunde tauchen auf, Piraten spielen eine Rolle, sprechende Tiere sind völlig normal. Seltsame Technologien wie Siebenmeilenstiefel werden eingesetzt, uralte Tagebücher müssen gelesen werden – in solchen Szenen wirkt der Roman dann wie ein ganz gewöhnliches Jugendbuch.
Als der Autor sein Buch im Jahr 1927 verfasste, war Masefield schon ein bekannter Schriftsteller. Mit Gedichten oder Büchern über den Ersten Weltkrieg hatte er sich einen Namen gemacht. Die Welt zwischen den Kriegen war voller Spannungen – »Das Mitternachtsvolk« wirkt in diesem Zusammenhang wie der Versuch, der wirklichen Welt zu entfliehen.
Der Autor selbst hatte ein abenteuerliches Leben hinter sich, als er zu schreiben begann. Jahrelang reiste er an Bord von Schiffen über die Weltmeere und besuchte verschiedene Länder. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann er mit seiner schriftstellerischen Arbeit.
Mit »Das Mitternachtsvolk« schuf der Autor ein phantasievolles Werk, das seinesgleichen sucht. In der Zeit, in der es verfasst wurde, war Phantastik – oder Fantasy – noch so jung, dass man sich keine Mühe gab, den Roman in Genre-Grenzen zu stecken. Er steht für sich, ist voller Abenteuer und phantastischer Ideen.
Ganz ernsthaft: Für Jugendliche dürfte der Phantastik-Klassiker auch heute noch ein Erlebnis sein. Und Erwachsene werden sich bei der Lektüre sicher nicht langweilen. Ich fand den Roman toll, aller Antiquiertheit etwa bei der Darstellung von Frauen zum Trotz.
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