11 Oktober 2023

Deprimierender und genialer Roman

Im Spätjahr 1972 lässt sich eine junge Frau, gerade einmal zwanzig Jahre alt, freiwillig in die »Heil- und Pflegeanstalt« namens Stella Maris einweisen. Sie leidet – so der Befund – an einer »paranoiden Schizophrenie«, was sich darin äußert, dass sie Besuch von seltsamen Wesen erhält, mit denen sie sich unterhält. Die junge Frau ist ausgesprochen attraktiv, zudem unglaublich intelligent; man müsste als Genie bezeichnen.

Das ist der Ausgangspunkt für den Roman »Stella Maris« des Schriftstellers Cormac McCarthy. Er ist für sich verständlich, man kann ihn jederzeit ohne weitere Vorkenntnisse lesen – es ist aber besser, ihn als Ergänzung zum Roman »Der Passagier« des gleichen Autors zu lesen, nicht als Fortsetzung, sondern als eine Lektüre, bei der das eine das andere Buch ergänzt.

Klingt seltsam, ist es vielleicht auch. Denn der Roman besteht nur aus Gesprächen zwischen der jungen Frau, die für sich keinen Sinn in ihrem Leben mehr sieht, und dem Psychiater, der versucht, sich auf sie einzulassen, schnell aber feststellt, dass sie ihm intellektuell meilenweit überlegen ist. Aus dieser Konstellation ergeben sich Gespräche, die der Autor in spannenden Dialogen vorantreibt – ohne An- und Abführungszeichen und praktisch ohne Regieanweisungen wie »sagte er« oder »sie nickte nachdrücklich«, die man sonst haufenweise in Romanen und Kurzgeschichten findet.

Das bedeutet letztlich: Als Leser musste ich mich sehr intensiv auf die Figur und ihr Innenleben einlassen, musste ihr gewissermaßen vertrauen, obwohl sie ja ein schwieriger Charakter ist und weit davon entfernt, ein Held oder eine Heldin zu sein. Unterhaltsam war das allemal, aber ich musste mich eben auf eine Figur einstellen, die völlig anders denkt und argumentiert, als ich das tun würde.

Tatsächlich kreisen die Gespräche um Mathematik und Kunst, um Philosophie und Sprache, sie sind intellektuell und witzig, und sie sind gleichzeitig aussichtslos, weil man befürchten muss, dass sich die geniale junge Frau am Ende schlicht umbringen wird. Es ist eine fesselnde Lektüre, ein Roman, der mich nicht losließ und der zwar keinen Millimeter weit phantastisch ist, aber mehr Phantasie mit sich bringt als ein großer Teil dessen, was als Fantasy verkauft wird.

Starke Geschichte, eindrucksvolles Buch!

1 Kommentar:

Enpunkt hat gesagt…

Informationen zu »Stella Maris« gibt es auf der Internet-Seite des Rowohlt-Verlags, darunter natürlich auch eine Leseprobe.
Hier:
https://www.rowohlt.de/buch/cormac-mccarthy-stella-maris-9783498003364