17 August 2016

Politik mit der Vorhangstange

Das Tantchen war nicht viel älter als wir Kinder; für die Erwachsenen zählte sie noch zu den Kindern oder gehörte vielleicht bereits zu den Jugendlichen, und für uns war sie in diesem Zwischenbereich zwischen Jung und Alt angesiedelt. Wenn wir ihre Eltern besuchten, lud sie mich und andere Kinder allerdings gern zu einem Spiel an, das wir sehr verwunderlich fanden.

Sie imitierte Politiker. In den frühen 70er-Jahren war Politik eine sehr ernsthafte Angelegenheit, die Fernsehsendungen zeigten ausgiebig die Reden von Politikern, strenge Männer in Schwarzweiß. Und diese imitierte sie; eine Vorhangstange wurde umgedreht und diente als Ersatz für ein Mikrofon. Das Fenster, durch das wir bis zum Nachbardorf schauen konnten, war der Blick in die Fernsehkameras und ins Auditorium des Bundestages.

Dort hielt sie ihre Reden. Das Tantchen sprach laut – und schaffte es, so hochdeutsch zu reden, dass es wie Rainer Barzel oder Willy Brandt klang; sie machte Franz-Josef Strauß und Herbert Wehner so gut nach, dass es für mich glaubhaft klang. Das fand ich ziemlich beeindruckend.

Dummerweise wollte sie, dass wir ebenfalls solche Reden hielten. Während andere Kinder »Cowboys und Indianer« oder »Papa, Mama, Kind« spielten, wollte sie »Bundestag« spielen. »Klaus, halt du auch mal eine Rede«, forderte sie mich immer wieder auf.

Ich hatte keine Ahnung, wir hatten keinen Fernseher, also wusste ich nicht, wie sich Politiker verhielten. Also musste ich ihre Imitation mit meinen bescheidenen Mitteln imitieren. Es reichte zu einem maulenden Herbert Wehner mit seinem »Ich bin nicht Ihr Kollege«, was mich nachhaltig begeistert hatte, und zu einem »Wos soll denn dös?« von Franz-Josef Strauß, das ich nur schlecht nachahmen konnte.

Politik wurde mithilfe einer Vorhangstange imitiert. Ich war ein lausiger Redner, ich lernte es nie. Meine frühe Politisierung war also ein ziemlicher Fehlschlag. Aber auch aus dem Tantchen wurde keine Politikerin, sondern eine ganz normale Büroangestellte ...

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