02 Mai 2019

Zwischen Orscha und Minsk

Der Wald dampfte an diesem Januartag. Trotz der kalten Jahreszeit waren die Temperaturen auf über zehn Grad geklettert, der Schnee war größtenteils geschmolzen. In der Sonne schien der Wald zu schwitzen.

Mein Vater nickte mir zu. »Pause«, sagte er und setzte die Motorsäge ab. Er zog die Handschuhe aus, legte sie daneben und dehnte sich.

»Pause«, bestätigte ich und stellte meine Axt zur Säge.

Wir arbeiteten im »Holzschlag«, einem Stück Wald, durch das bereits die Holzarbeiter gezogen waren. Sie hatten die Stämme der frisch gefällten Bäume mitgenommen, wir konnten nacharbeiten und genügend Holz für die eigene Heizung schlagen.

Wir gingen zu unserem Lager, setzten uns. Mein Vater öffnete eine Bierflasche für sich und eine für mich. Wir tranken. Um uns hörte ich den Wald, er atmete richtig. Holz knackte, Zweige raschelten im sanften Wind, irgendwo zwitscherten Vögel.

Unvermittelt fing mein Vater an. »Das war auch so ein Wald«, sagte er und starrte ins Leere. »Irgendwo zwischen Orscha und der Beresina.«

Ich starrte ihn an, sagte kein Wort. Offenbar drängte es aus ihm heraus.

»Wir waren auf dem Rückzug, aus einem Kessel raus, dann wieder eingekreist. Ich saß auf einer Lafette, da explodierte eine Mine unter uns.« Er schüttelte sich. »So ein verdammtes Partisanending, gefüllt mit allem Dreck, Nägel und Eisensplitter.«

Er wurde schwer verwundet und verlor das Bewusstsein. »Ein Fahrer hat uns mit dem Sanka quer durch das Partisanengebiet transportiert«, sagte er. Leichtverletzte Männer hätten sich außen an das Fahrzeug geklammert.

Sie erreichten Minsk, wo die Verwundeten auf offene Waggons verladen wurden. »Der Zug fuhr aus dem Bahnhof raus, da kamen die russischen Panzer schon von der anderen Seite rein. Das war knapp.«

Er hielt inne und nahm einen Schluck Bier. Ob er die Fahrt bei Bewusstsein erlebt hatte oder nicht? Ich fragte nicht.

»Wir fuhren durch Weißrussland«, erzählte er weiter. »Immer nach Westen. Überall waren Partisanen. Wer unterwegs starb, dessen Leiche hat man aus dem Waggon geworfen.«

So kam er nach Deutschland zurück, wo man ihn im Lazarett zusammenflickte, um ihn nach einigen Monaten wieder an die Ostfront zu schicken. Diesmal kam er in die Slowakei. Davon wusste ich etwas.

»Hast du den Mann eigentlich wiedergesehen?«, fragte ich ihn, nachdem er gut zwei Minuten lang geschwiegen hatte.

»Nach dem Krieg, beim Divisionstreffen in Tübingen.«

»Und wie war das so?«

Er stand auf. »Lass uns weiter arbeiten.« Er nahm seine Bierflasche und leerte sie in einem Zug. Dann ging er zu seiner Motorsäge. »Wir wollen ja nicht im Wald übernachten.«

Ich nickte nur.

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