30 Juli 2021

Ein Symbolbild an der Kreuzung

Mit meinem Rad schlängelte ich mich auf der Schillerstraße zwischen den Straßenbahnen und den parkenden Autos hindurch. An der Kreuzung muss ich kurz anhalten. Rechts von mir standen junge Leute, vielleicht 14 oder 15 Jahre alt, so genau konnte ich das nicht erkennen; sie wirkten jung und schlaksig.

Der Junge hatte verwuschelte blonde Haare und trug eine kurze Hose, das Mädchen hatte die übliche Langhaarfigur und einen Rock. Beide hatten eine Corona-Schutzmaske im Gesicht, er in schwarz, sie in weiß. Sie hielten Händchen und standen sich gegenüber; beide hatten sie die Köpfe gegeneinander gelegt.

Es war wie ein Symbolbild für diese Pandemie: zwei Jugendliche, für die seit dem Frühjahr 2020 das nicht mehr so einfach möglich ist, dass in meiner Jugend normal gewesen war. Distanz halten, Maske tragen. Die beiden rührten mich an, ihr Bild prägte sich ein.

Die Schlacht von Maiwand im Blick

Ich bin kein ausgesprochener Fan der Romanfigur Sherlock Holmes. Zwar habe ich mehrere der Geschichten und Romane gelesen, kenne Verfilmungen und Comics, aber ich bin echt kein Experte. Die Lektüre des »Sherlock Holmes Magazins«, das mir gelegentlich ins Haus flattert, ist deshalb oft verwirrend: mit welchen Details sich die Fans des englischen Detektivs beschäftigen können!

Die Ausgabe 46 kam im Winter 2020/21 heraus, und die las ich tatsächlich genau. Die Herausgeber spüren darin der Geschichte von John Watson nach, der bekanntlich in Afghanistan schwer verwundet wurde und deshalb nach London und zu Sherlock Holmes zog. (Das hat man in den neuen Filmen ja übernommen, und darüber schreibt diese Ausgabe der Zeitschrift ebenfalls.)

Aus den wenigen Informationen, die man in den Originalgeschichten und Romanen dazu finden kann, wird John Watsons Geschichte im Afghanistan-Krieg herausgearbeitet. Vor allem konzentriert sich die Zeitschrift auf das sogenannte Desaster von Maiwand – von dem ich bislang noch nie gehört hatte. Die Schlacht wurde im Juli 1880 zwischen britisch-indischen Streitkräften und afghanischen Verbündeten ausgetragen und führte zu hohen Todesopfern auf britischer Seite. Mit dabei war wohl Dr. John Watson.

Der umfangreiche Artikel kommt mit irrsinnig vielen Details her. Aussagen in englischer Sprache – alle brav übersetzt – zeugen von der Wucht der Schlacht. Fotos und Zeichnungen ergänzen das Ganze.

Auch wenn mir das manchmal zu sehr ins Detail geht, fand ich die Darstellung doch interessant: Im Prinzip geschah den Briten im 19. Jahrhundert das in Afghanistan, was in den 80er-Jahren der Sowjetunion geschah und zuletzt den westlichen Truppen: Offensichtlich lässt sich das zerklüftete Land nicht mit schlichter militärischer Logik erobern und besetzen.

So ist die Ausgabe 46 des »Sherlock Holmes Magazins« nicht nur für die Holmes-Freunde von Interesse, sondern auch für Menschen, die sich – ganz allgemein – für Geschichte und historische Abläufe interessieren. Immerhin: 32 Seiten im A4-Format, recht professionell gesetzt. Mehr Infos dazu auf der Internet-Seite des Magazins …

29 Juli 2021

Ich bin im neuen »Plop«

Seit vierzig Jahren erscheint das Comic-Fanzine »Plop«. Ich weiß gar nicht mehr genau, ab wann ich es abonnierte; sicher nicht gleich zur ersten Ausgabe, vielleicht aber schon zur zweiten Ausgabe. Ich mochte es immer sehr gern, trotz gelegentlicher Schwächen – weil es ein echtes Fanzine war.

Dieser Tage wurde die Ausgabe 99/100 veröffentlicht, ein umfangreiches Heft im klassischen A5-Format. Gelesen habe ich es noch nicht, das nehme ich für die nächsten Tage vor.

Mich freut vor allem, dass ich in dieser Jubiläumsnummer vertreten bin. Nicht mit einem Comic, das wäre seltsam – nach wie vor bin ich nicht in der Lage, auch nur Krakelzeichnungen halbwegs brauchbar hinzuzimmern.

Aber ich bin mit einem Interview vertreten, das ich mit Heike Anacker geführt habe. Bei ihr handelt es sich um die damalige Gründerin, bei der ich damals das Fanzine abonniert hatte. Ohne jeglichen Schmarrn jetzt: Das war mir eine Ehre!

28 Juli 2021

Jennifer … wer?

Wer in den 80er-Jahren – so wie ich – regelmäßig ins Kino ging, kam an dem Film »Flashdance« nicht vorbei. Ich war nie ein Fan von Tanzfilmen, und ich schrieb damals einen sehr kritischen Beitrag über den Streifen für die örtliche Tageszeitung, aber der Film hatte seinen Charme. Vor allem die Hauptdarstellerin Jennifer Beals überzeugte 1983 mit ihrem Tanz; das war damals mitreißend und modern.

Was die Schauspielerin, die nur zehn Tage jünger ist als ich, danach alles machte, bekam ich nicht mit. Dass sie in der Serie »The L Word« mitwirkte, las ich erst in einem Wikipedia-Artikel. Man kann ja auch nicht alles wissen …

Aber dieser Tage fing ich damit an, die Serie »Swamp Thing« anzugucken, eine Superhelden-Verfilmung, die bei einem großen Streaming-Anbieter läuft. In dieser Serie spielt Jennifer Beals die Chefin eines örtlichen Polizeireviers, durchaus kompetent, aber schnell dabei, eine Schusswaffe zu ziehen.

Eine Ähnlichkeit zu der tanzenden jungen Frau von 1983 war für mich nicht festzustellen. Wenn man’s weiß, kann man sich ja eine Ähnlichkeit einbilden. Aber seit ich »Swamp Thing« gucke, habe ich immer wieder Szenen aus »Flashdance« vor Augen. Dass das so beabsichtigt war, bezweifle ich ja …

Packender Roman über die Autonomen und ihre Geschichte

Steine prasselten auf anstürmende Polizisten herab, Barrikaden wurden errichtet, Brandsätze flammten auf – es herrschte Krieg in Westberlin. In den 80er- und frühen 90er-Jahren kam es häufig zu massiven Auseinandersetzungen zwischen den Autonomen und ihren Verbündeten auf der einen sowie der Staatsmacht auf der anderen Seite. Davon erzählt der Roman »Begrabt mein Herz am Heinrichplatz«, den Sebastian Lotzer verfasst hat.

Es mangelt nicht an Büchern über die sogenannten Autonomen und ihre Geschichte. Sie sind entweder wissenschaftlich orientiert, oder sie werden von »außen« oder gar von »oben herab« erzählt. Irgendwelche Literaten schreiben also über die Autonomen und versuchen, sich einigermaßen in deren Gedankenwelt hineinzuarbeiten.

Sebastian Lotzer weiß offenbar, wovon er spricht: Sein Roman ist bei allen handwerklichen Mängeln unterhaltsam und mitreißend, zeigt letztlich eine Geschichtsschreibung von 1980 bis in die Mitte der 90er-Jahre – Geschichte »von unten« eben, nicht aus der Sicht der Mächtigen. Das macht er klar und ohne Umschweife: Paul, sein Held, geht als Schüler im Jahr 1980 auf die ersten Demonstrationen, ist bei den Hausbesetzungen in den 80er-Jahren dabei und nimmt an praktisch jeder Straßenschlacht des Jahrzehnts teil.

Er nimmt kein Blatt vor den Mund. Paul redet nur von »Bullen«, das System ist immer der Gegner. Seine Abneigung gilt aber auch den »Spaltern« in der eigenen Szene und den Leuten, die unbedingt verhandeln wollen. Sein Hass trägt ihn durch ein Jahrzehnt, nicht einmal eine Liebesgeschichte kann ihn vom Kampf gegen die Staatsmacht abbringen. Das Buch endet im Jahr 2008, der Held ist alt geworden, lehnt aber immer noch das herrschende System ab.

Handwerklich ist das alles andere als elegant erzählt. Die Zeitenfolge ist manchmal verwirrend, die Sprünge durch die einzelnen Szenen nicht immer nachvollziehbar; rein grammatikalisch wimmelt es von Fehlern. Mich störte das im Lesefluss zeitweise sehr, da liest bei mir eben doch der Redakteur mit – aber es gab immer wieder Passagen, da machte mir das nichts aus, da folgte ich voller Interesse den Abenteuern des autonomen Helden und seiner Freude.

Spannend ist das Ganze nämlich schon. Die erbitterten Kämpfe zwischen Autonomen und Polizisten werden lebensecht und ohne jegliche Verharmlosung geschildert. Man riecht förmlich das Tränengas, das durch die Straßen wabert, man hört fast die Sirenen und spürt die Hiebe der Knüppel und die treffenden Steine. Lotzer schildert derart packend, dass ich mitfieberte.

Allerdings: Man muss einigermaßen verstehen, was zu welcher Zeit eigentlich abging, sonst bleiben einem viele Szenen unklar. Wer nicht weiß, um was es beim Reagan-Besuch ging, oder noch nie von der Rigaer Straße gehört hat, wird nicht kapieren, warum es bei welchen Gelegenheiten zu harten Auseinandersetzungen kam. Ähnliches gilt für Personen oder Daten – der 1. Mai '87 war ein Fanal, von dem jüngere Leute kaum noch wissen dürften. (Gut ist, dass der Verlag eine umfangreiche Liste veröffentlicht hat, wo man mithilfe von Links den einzelnen Kapiteln des Buches nachspüren kann.)

Bei allen handwerklichen Schwächen halte ich »Begrabt mein Herz am Heinrichplatz« für einen wichtigen Roman. Wer sich für die Geschichte der Autonomen interessiert oder wissen möchte, warum manche Leute in früheren Jahrzehnten militant unterwegs waren, wird hier hoffentlich viele Erkenntnisse sammeln.

Erschienen ist der Roman als Paperback im Bahoe Verlag; er umfasst 176 Seiten und kostet 14,00 Euro. Man kann ihn überall im Buchhandel bestellen, die ISBN 978-3-903022-62-1 kann dabei hilfreich sein. Und wer mehr wissen will, schaue sich die Seite des Verlages an.

27 Juli 2021

Ein Graffito an der Alb

Die Alb ist ein kleiner Fluss, der sich auf seinem Weg aus dem Schwarzwald und bis an den Rhein durch Karlsruhe windet. Im Verlauf der Jahrzehnte haben die diversen Stadtverwaltungen den kleinen Fluss als Zentrum eines langgestreckten Naherholungsgebiets ausgebaut. Liegewiesen, Grillstellen, Schrebergärten und Badestellen säumen die Alb, die auf ihrem Weg immer wieder von Straßen und Bahntrassen überquert wird.

Unter den Brücken finden sich immer wieder schöne Graffiti oder sonstige Kunstwerke, die man vielleicht mit einem anderen Begriff bezeichnen müsste. Ich schaue sie mir gern an, wenn ich an ihnen vorbeiradle, was in den vergangenen Monaten gar nicht so oft passiert ist: Entlang der Alb sind die Wege oft so mit Fußgängern und Radfahrern bevölkert, so dass es mir während der Pandemie schlichtweg zu viel war.

Dieser Tage blieb ich an einem großen Bild stehen, das mich faszinierte. (Falls es jemand sucht: Die Brücke ist unweit vom »Schupi« zu finden.)

Ein schräger Western-Comic

Beim Gratis-Comic-Tag 2020 gab es auch einen ungewöhnlichen Western-Comic, den ich dieser Tage endlich lesen konnte. »Lincoln« stammt von dem Ehepaar Jérôme und Anne-Claire Jouvray als Zeichner sowie dem Bruder Olivier Jouvray als Texter – es handelt sich also um eine echte Familienproduktion. Veröffentlicht wird die mittlerweile sieben Bände umfassende Serie im Verlag Schreiber & Leser.

Die Geschichte selbst hat nicht viel mit Familie zu tun: Die Hauptfigur namens Lincoln wird 1887 geboren, in der Endphase des Wilden Westens, die Geschichten spielen also – wenn man es genau nimmt – zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Erzählt werden aber typische Western-Geschichten, zumindest wirkt es auf mich nach Lektüre des Gratis-Heftes so.

Lincoln ist ein bösartiger Mensch, der lieber betrügt und stiehlt, als einer ehrbaren Arbeit nachzugehen. Dann trifft er Gott, der ihn mit der Unsterblichkeit belohnt – und ab diesem Moment läuft das Leben des ziellos herumstreunenden Lincoln nach anderen Gesetzen ab als zuvor.

Die Geschichte ist sarkastisch; trockene Dialoge und knallige Szenen prägen die Handlung. Die Figuren sind nicht ohne Moral, aber sie gehen damit sehr locker um. Gott und der Teufel spielen ihre Rollen und staunen über das Verhalten der Wildwest-Bewohner. Das alles wird sehr schön erzählt; das gefiel mir.

Zeichnerisch hatte ich meine Probleme. Der Stil ist eher skizzenhaft: klare Linien, leicht verzerrte Figuren, weit mehr Funny als realistisch. Das passt allerdings wunderbar zum teilweise groben und überraschenden Humor der Serie.

»Lincoln« ist nicht gerade die Art von Comic, die ich mag, wenn ich an Western denke – aber wer eine originelle Geschichte zu schätzen weiß, findet darin sicher seine Freude.

26 Juli 2021

Der Hund bleibt

Ich mag Filme mit Schriftstellern. Da fühle ich mich irgendwie verbunden. Und deshalb mochte ich »Der Hund bleibt«. Dieser französische Film wurde 2019 in Frankreich veröffentlicht, wäre 2020 in die deutschen Kinos gekommen – was wegen Corona nicht ging –, ist jetzt digital und auf DVD erhältlich und wurde von mir bei einem der bekannten Streaming-Anbieter angesehen.

Es handelt sich um eine Literaturverfilmung, gedreht nach einem Roman von John Fante, der offensichtlich gern über Schriftsteller und ihre Leiden geschrieben hat. Seine Hauptfigur – gespielt von Yvan Attal, zugleich auch der Regisseur des Filmes – hatte vor bald dreißig Jahren einen riesigen Erfolg als Autor. Davon profitiert er nach wie vor, wenngleich er in einer Schreibblockade festsitzt.

Immerhin hat er genügend Geld, um seinen vier Kindern und seiner Frau – wieder einmal toll: Charlotte Gainsbourg – ein gutes Auskommen zu sichern. Mit positiven Gefühlen ist es allerdings nicht so gut bestellt; im Prinzip öden sich alle nur noch an und haben ständig schlechte Laune. Dann aber kommt ein hässlicher Hund in das Leben der Familie – und alles ändert sich.

Bei »Der Hund bleibt« handelt es sich nicht um ein »Feelgood«-Movie, an dessen Ende sich alle wieder lieb haben. Die Familie zerfällt, die Frau geht fremd, ein Sohn wandert ins Gefängnis. Es gibt am Ende eine gewisse Hoffnung, aber … mehr will ich nicht dazu erzählen.

Der Film ist richtig gut, finde ich. Erzählt wird von einer Familie, bei der halt der Vater ein Schriftsteller ist, die aber ansonsten die üblichen Probleme hat – jeder geht mit seinen Problemen halt anders um. Das ist mal witzig, mal tragisch, auf jeden Fall immer sehr unterhaltsam. Empfehlenswert!

Jello Biafra und die Tea Party

Seit den frühen 80er-Jahren zählt Jello Biafra zu den wichtigsten Punk-Sängern für mich. Ich mag nach wie vor die Dead Kennedys, ich finde seine Folgeprojekte gut, und ich halte auch die aktuelle Band mit dem sperrigen Titel Jello Biafra & The Guantanamo School of Medicine für spannend. Einmal sah ich die Band in Berlin und war davon sehr angetan.

2020 erschien die 500. (fünfhundertste) Platte auf dem Label Alternative Tentacles, das Jello Biafra vor Jahrzehnten gegründet hat. Es ist die vierte Langspielplatte der Band, sie trägt den Titel »Tea Party Revenge Porn«, und sie gefällt mir richtig gut, sowohl textlich wie auch musikalisch.

Bei den Texten überrascht es wenig, dass sie politisch und sarkastisch sind. Biafra macht keinen Hehl aus seiner Abneigung gegenüber der amerikanischen Politik; er kritisiert die Umweltzerstörung und die »Pro Life«-Bewegung, er spottet über aktuelle Diskussionen und Hassbotschaften im Internet – das alles in Texten, die nicht aus Parolen bestehen, sondern in knappen Sätzen seine Aussagen vermitteln.

Das überträgt sich auf die Stimme, die nach all den Jahrzehnten immer noch überzeugend klingt. Die Band unterstützt das mit ihrem wuchtigen Sound, der nicht unbedingt klassisch-punkig ist. Klar, die Musiker können spielen, sie haben ihr Geld in anderen Bands verdient. Also verirrt sich auch mal ein kurzes Gitarren-Solo in ein Stück, während das Tempo deutlich gebremster als früher ist.

Aber es ist ein abwechslungsreiches, ein starkes Album. Ich kann gut verstehen, dass sich Biafra diese Platte auf dem eigenen Label und zu dieser Nummer quasi als Geschenk gemacht hat. Und ich kann nur hoffen, dass er weiterhin so aktiv bleibt und ich die Band vielleicht mal wieder sehen kann!

25 Juli 2021

182,5 fürs zweite Halbjahr

Man kann schon sagen, dass ich nach vielen Jahren eine gewisse Verbundenheit mit der Bundesakademie für Kulturelle Bildung in Wolfenbüttel aufgebaut habe. Ich freue mich auch immer, Post von der Akademie zu erhalten, ob diese nun gedruckt und auf Papier oder digital kommt.

Die Broschüre »182,5«, die das Programm des zweiten Halbjahrs 2021 vorstellt, habe ich dieser Tage endlich durchgelesen. Mich freut natürlich, dass mein Name genannt wird – immerhin bieten Katrin Lange und ich wieder ein Schreibseminar an, diesmal für »politische Phantastik«, und ich bin selbst schon sehr gespannt darauf, was dabei herauskommen wird.

Schön ist, dass die Texte und Fotos das Innenleben der Akademie zeigen. Man sieht den Hausmeister in seinem Arbeitsbereich, man sieht den legendären Zugang zum Fahrradkeller (den ich nur von »innen« kenne), man sieht Büroräume und erhält Fotos der Leute, die dort arbeiten. Das fand ich sehr angenehm und sehr ansprechend!

23 Juli 2021

Der Onkel aus Stalingrad

Meine Mutter erwischte mich dabei, wie ich mit einem Roman des deutschen Schriftstellers Heinz G. Konsalik auf dem Sofa saß: »Was liest du denn da?« Bücher waren ihr suspekt, sie las selbst nicht und fand es seltsam, dass ich mich stundenlang in einen Schmöker vertiefen konnte.

Ich zeigte ihr den Roman, nicht unbedingt stolz wegen meiner Lektüre, aber auch nicht selbstkritisch. Es war »Der Arzt von Stalingrad«, ein bereits ziemlich zerlesenes Taschenbuch, das einem Klassenkameraden gehörte und von diesem nacheinander allen möglichen Jungs ausgeliehen wurde.

Ich war elf Jahre alt und politisch noch sehr unsicher; das meiste, was ich im Radio mitbekam, verstand ich ohnehin nicht. Aber den Roman fand ich ebenso spannend wie die anderen Werke des Schriftstellers, die ich in diesem Herbst 1974 las. Rassistische Klischees fielen mir nicht auf, die Darstellung deutscher oder russischer Soldaten hinterfragte ich nicht.

Die Darstellung des Zweiten Weltkriegs, vor allem der Ostfront, fand ich eben faszinierend. Mein Vater erzählte so gut wie nichts über die Jahre 1943 bis 1945, in denen er bei der Wehrmacht gewesen war; also versuchte ich mir mein Weltbild durch Bücher zusammenzuzimmern. Sachbücher wie »Unternehmen Barbarossa« lieh ich in der Dorfbücherei aus, Romane besorgten mir Schulfreunde.

Meine Mutter betrachtete das Buch. »Stalingrad«, sagte sie leise. Tränen traten in ihre Augen.

Ich war verwirrt und legte das Buch neben mich. Was hatte ich falsch gemacht? Mein Vater war doch nicht in Stalingrad gewesen, sondern in Orscha und Minsk, in der Slowakei und in Schlesien. So viel wusste ich immerhin.

»Der Onkel Wilhelm«, erläuterte sie. »Mein Onkel also. Der war in Stalingrad, der ist dort geblieben. Niemand weiß, was aus ihm geworden ist.«

»Ist er gefallen oder in Gefangenschaft gestorben?« Ich hatte zu dem Onkel keinerlei emotionale Beziehung, also stellte ich meine Frage eher nüchtern.

Nun weinte sie. »Wir wissen es nicht. Meine Mutter hat mir immer seine Briefe vorgelesen, und als der Umsturz kam, hat sie alle verbrannt.« Mit »Umsturz« meinte meine Mutter das Kriegsende, und sie war nicht die einzige Person, die diesen Begriff benutzte. »Die waren immer so schlimm, das war kaum auszuhalten.«

»Was hat er denn geschrieben?«

»Frag nicht. Wie schlimm das alles ist. Wie schlimm der Krieg ist. Und wie sie in Stalingrad gefroren und gehungert haben. Und dann hat er geschrieben, in seinem letzten Brief …« Sie brach ab. »Die Russen kriegen mich nicht, hat er geschrieben, vorher gibt er sich die Kugel.«

Ich blickte auf das Buch. Ich wusste nichts über meine Verwandtschaft und ihr Verhalten während der Nazi-Zeit. Man sprach nur selten über diese Jahre, und manchmal brachen die Gespräche der Erwachsenen ab, wenn wir Kinder in die Nähe kamen. Meine Versuche, mithilfe von Konsalik-Romanen ein wenig vom Krieg zu erfahren, kamen mir selbst falsch vor – aber ich wusste nicht, wie ich hinter das Schweigen kommen sollte.

»Und dann?«, fragte ich weiter.

»Dann haben wir nichts mehr vom Onkel Wilhelm gehört«, antwortete sie, während sie versuchte, ihre Tränen mit einem Stofftaschentuch abzuwischen. »In der Zeitung kam, dass die sechste Armee kapituliert hätte, aber wir hörten nichts mehr von ihm. Auch nach Kriegsende nicht. Er gilt als verschollen. Der gute Onkel Wilhelm, der arme Onkel Wilhelm.«

An diesem Tag erlangte meine Mutter nicht mehr ihre fröhliche Art zurück. Immer wieder schniefte sie und wirkte traurig. Ich versteckte »Der Arzt von Stalingrad«, damit sie nicht mehr deshalb weinte, las das Buch zu Ende, fand es mitreißend und gab es meinem Klassenkameraden zurück.

Danach sprach ich daheim nie wieder von Stalingrad.

Der Albtraum-Friedhof

Eine ungewöhnliche Kulisse gibt es für das »John Sinclair«-Hörspiel, das ich zuletzt gehört habe: Es spielt im Schwarzwald, und die Geschichte beginnt in einem fiktiven Waldhotel. Das ist eine Umgebung, in der ich mich sofort wohlfühle – immerhin bin ich im Schwarzwald geboren und aufgewachsen, wenngleich nicht gerade in einem Waldhotel.

In diesem Hotel ist unter anderem ein Wissenschaftler abgestiegen, der in einer Höhle nach Hinterlassenschaften der Etrusker sucht. Er durchstöbert eine Höhle, dort gibt es dann eine Spur zu einem uralten Dämon – und nach einigem Hin und Her erwachen die Toten auf einem Friedhof … ein Grund für John Sinclair, den Inspektor von Scotland Yard, so schnell wie möglich von London in den Schwarzwald zu reisen.

Etruskische Gräber im Schwarzwald? Darauf muss man erst einmal kommen! Es ist typisch für die »John Sinclair«-Serie, dass vor allem in früherer Zeit wild allerlei Mythen genommen und wild kombiniert werden. »Der Albtraum-Friedhof« ist ein typisches Beispiel für diese Art von Gruselroman: Erstmals wurde die Geschichte 1977 als Heftroman in der Reihe der »Gespenster-Krimis« veröffentlicht, jetzt liegt sie als Folge 40 der »Sinclair Classics« als Hörspiel vor.

In gewohnter Qualität versteht es Dennis Ehrhardt erneut, aus dem alten Heftroman mit all seinen sprachlichen und inhaltlichen Klischees eine vergleichsweise moderne Geschichte zu machen. Gute Sprecher, starke Geräusche – das klappt immer sehr gut und macht die Geschichte spannend. Sogar wenn am Ende die üblichen Zombies aus den Gräbern steigen und durch die Geschichte torkeln, ist das sehr gut gemacht.

Was ich interessant finde: Es wird nicht nur ein männlicher Erzähler eingesetzt, sondern auch eine Erzählerin. Das gibt der Geschichte einen zusätzlichen Reiz. Das Fehlen jeglichen Dialekts fand ich allerdings schwach; zumindest eine leichte schwäbische oder badische Färbung hätten die Sprecher für die »Einheimischen« doch haben können …

Wie immer ist das Hörspiel sehr gut – mich als ehemaligen Schwarzwälder sprach die Geschichte natürlich besonders an. Man muss halt mit Zombies, Dämonen und historischen Ungenauigkeiten klarkommen.

22 Juli 2021

Werbung für den Zeit-Gladiator

Als ich in die Science-Fiction-Szene kam, war ich durchaus politisiert. Ich hätte mich als »links« bezeichnet. In meiner Erinnerung sind meine großspurigen Sprüche leider noch vorhanden; ich hoffe, dass die meisten anderen Leute aus dieser Zeit das verdrängt haben.

Im Fandom – so nennt man die Szene der Science-Fiction-Fans – war das mit der Politik aber so eine Sache: Es gab eine sehr lautstarke Fraktion, die sich dem Kampf gegen die »Schundromane« verschrieben hatte, die also vor allem gegen Heftromane wie PERRY RHODAN vorging. Und es gab eine stille Fraktion, die eben ihre Romane las, ansonsten aber in Ruhe gelassen wollte.

Ganz anders aber das Bild, wenn man sich anfangs der 80er-Jahre manche Fanzines und ihre Inhalte genauer anschaute. In verschiedenen Fanzines wurde beispielsweise der »Time Gladiator« beworben. Herausgeber des Science-Fiction-Heftes war Ingo Dristram, der »nebenbei« auch für das Neonazi-Heft »Werwolf« verantwortlich zeichnete.

Illustre Mitarbeiter prägten das Heft. Man wies internationale Autoren wie Brian W. Aldiss und Alfred Bester auf, internationale Fans wie Wolf von Witting oder Carla Mötteli, aber eben auch Christian Worch, der damals – wenn ich mich recht erinnere – noch wegen »Wiederbetätigung« im Gefängnis saß. Irgendwie schien das niemanden zu stören …

Als die Part Time Christians schrabbelten

Man kann nicht sagen, dass mir alle Punk-Bands der frühen 80er-Jahre gefallen; manche sind auch für meine Ohren zumeist nur krachig. Ein Beispiel dafür sind die Part Time Christians, über die ich nicht viel weiß: Die drei Typen machten nur eine einzige Platte, die den coolen Titel »Rock'n'Roll Is Disco« trug und 1984 veröffentlicht wurde.

Verantwortlich dafür waren Alternative Tentacles, das Label, das die Dead Kennedys begründet hatten; man kann also davon ausgehen, dass die Band irgendwie aus deren Umfeld kam. Was die drei Herren bieten, ist musikalisch sehr schrammelig und zugleich abwechslungsreich. Meist ist es heruntergeschrubbter Punk mit viel Gebrüll und wenig Melodie, das erste Stück trägt den Titel »Religion On A Stick« und ist tatsächlich das Beste der ganzen Platte.

Ansonsten wird viel experimentiert. Bei einem Stück wird HipHop untergemixt, bei anderen Stücken klingt die Band schwer nach Hardrock. Man kann sich das auch heute schon noch anhören, es packt mich aber nicht. Früher fand man das wohl experimentiell oder auch »mutig«, heute würde ich es als unausgegoren bezeichnen.

Und ich erinnere mich düster, dass es zwischen 1983 und 1987 eine Reihe von Platten und Bands bei Alternative Tentacles gab, mit denen ich gar nichts anfangen konnte. Die Part Time Christians bilden da keine Ausnahme …

21 Juli 2021

Panini mit SF-Programm

Das Thema Science Fiction ist noch lange nicht tot, auch wenn es immer wieder Menschen gibt, die das behaupten. Ab September 2021 gibt es im deutschsprachigen Raum einen weiteren Verlag, der Science Fiction veröffentlichen wird – und das finde ich spannend. Der Panini-Verlag steigt in das Geschäft ein

Als erster Titel kommt »Die Stadt aus Messing«; dabei handelt es sich um den ersten Band einer Trilogie, die von der amerikanischen Autorin Shannon Chakraborty geschrieben wird. Ab Februar 2022 sollen weitere Romane als Paperbacks mit Klappbroschur erscheinen.

Ich finde das gut: als Science-Fiction-Leser sowieso und als jemand, der sich ebenfalls in diesem Genre bewegt. Mehr Science Fiction im Ladenregal – das ist für alle Verlage gut.

Erzählungen über Mord und Einsamkeit

Im Pendragon-Verlag erschien zu Beginn der Nuller-Jahre eine sieben Bände umfassende Reihe, die den Schriftsteller Hans Herbst präsentierte. Das vierte Buch mit dem Titel »Stille und Tod« schickte mir der Verlag freundlicherweise als Rezensionsexemplar, aber es versackte in einem der Stapel ungelesener Bücher. Dieser Tage las ich es endlich.

»Stille und Tod« umfasst elf Texte. Manche erreichen die Länge einer Kurzgeschichte, andere wiederum sind Erzählungen. Häufig könnte man die Geschichten auch als Kurzkrimis bezeichnen; sie haben aber nichts mit der einfachen Struktur jener Krimis zu tun, die früher gern in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt werden. Hans Herbst hat einen düsteren, zugleich sehr realistisch anmutenden Ton, der mich sehr beeindruckt hat.

Die Hauptfiguren der Geschichten sind stets Männer, Frauen spielen nur eine Rolle am Rand. Diese Männer sind fast immer Kriminelle, oder sie haben mit einem kriminellen Milieu zu tun. Sie kommen aus dem Gefängnis, sie brechen ein, sie hantieren mit einer Schusswaffe oder einem Messer, sie sitzen in einer Bar und warten auf ihren Tod, sie träumen von der Vergangenheit und sind längst alt geworden. Häufig regnet es, und die Wände der Häuser sind ebenso grau wie die Gesichter der Figuren, die Hans Herbst in seinen Geschichten vorstellt.

Bei manchen Geschichten gibt es Bezüge zu Südamerika und Frankreich, zu Weltregionen also, in denen der Autor zeitweise gelebt hat. Dort haben auch seine Figuren einen Teil ihres Lebens verbracht, dort haben sie sich Verletzungen geholt oder Feindschaften eingehandelt, die sie bis ans Lebensende begleiten werden. Man vergisst in dem Milieu, das der Autor schildert, offenbar keine vergangene Untat.

Die Geschichten in »Stille und Tod« haben mich allesamt gepackt. Ihr Tonfall ist trocken, die Beschreibungen einzelner Szene manchmal fast lyrisch. Das ist meist große Klasse, das fasziniert mich. Manchmal aber … Sagen wir so: Aus Redakteurssicht fand ich gelegentlich die Struktur der Absätze nicht gerade optimal – da hätte ich mir an mancher Stelle andere Absätze gewünscht, um die Dialoge besser zu strukturieren. Aber das ist Detailhuberei.

Das Buch ist klasse, die Geschichten von Hans Herbst sind spannend, und ich werde mir auch die weiteren Bände aus dieser Reihe besorgen. (Es sind übrigens schicke Hardcover-Ausgaben.)

20 Juli 2021

Genua vor zwanzig Jahren

Ich war in meinem Leben ein einziges Mal in Genua – das war 1983. Am Wochenende des 18. bis 22. Juli 2001 hatte ich mir überlegt, zu den großen Demonstrationen in die italienische Stadt zu fahren, aber nicht lange. Ich hatte dann doch mehr Lust dazu, auf einem Open-Air-Festival zu stehen, Bier zu trinken und Musik zu hören. Ich erinnere mich jedoch noch sehr gut daran, wie entsetzt wir die Berichte aus Genua wahrnahmen.

Wie die Polizei in immer brutalerer Manier die Demonstrationen angriff.

Wie friedliche Demonstranten von der Hafenbrüstung ins Wasser geprügelt wurden.

Wie Wasserwerfer und Tränengast eingesetzt wurden, vor allem gegen friedliche Demonstranten.

Wie ein junger Mann kaltblütig von der Polizei ermordet wurde (man erschoss ihn, dann fuhr man über den Toten noch mit dem Auto drüber).

Wie man inhaftierte Demonstranten misshandelte und sexuell belästigte.

Wie ein Schwarzer Block durch die Straßen marodieren konnte, ohne dass das die Polizei groß interessierte (warum wohl?).

Das ist jetzt zwanzig Jahre her. Ich war nicht in Genua, ich bin froh darüber.

Ein Science-Fiction-Dreiteiler, der mich nicht überzeugte

Von dem argentinischen Comic-Zeichner Juan Gimenez habe ich im Verlauf der Jahre immer wieder Comics gesehen, bei denen mich sein künstlerischer Stil faszinierte: Gimenez schafft es, so zu malen, dass jedes Bild für sich zu einem Kunstwerk wird. Das Weltraum und seine Weiten, fremde Planeten und Außerirdische werden bei ihm zu teilweise beeindruckenden Bildern. Bei dem Comic-Dreiteiler »Segmente« konnte mich allerdings nichts überzeugen.

Vielleicht liegt es an der Handlung. Die Geschichte beginnt im Jahr 2814, in einer Zeit, in der sich die Menschen in der Milchstraße ausgebreitet haben. Man hat das Sternenreich in sogenannte Segmente unterteilt; ist ein Mensch sieben Jahre alt, wird er getestet und dann auf eine bestimmte Welt geschickt. Dort wird er für den Krieg, die Kunst oder die Arbeit erzogen und bleibt den Rest seines Lebens in dem für ihn bestimmten Segment.

Doch natürlich geht das nicht gut; es rührt sich Widerspruch. Zudem scheint ein genetisches Problem vorzuliegen – die gesamte Menschheit steht kurz davor, einfach auszusterben. Einige Verschwörer schmieden einen waghalsigen Plan ...

Soweit die Inhaltsangabe für drei Comic-Bände, die eigentlich nach einer Fortsetzung verlangen – der dritte Band endet mit einem Cliffhanger –, die mich aber nicht sonderlich interessieren dürfte. Das liegt sicher an der wirren Handlung und an einem Weltenbau, an dem so gut wie nichts stimmt.

Richard Malka, der Autor der Geschichte, hatte offenbar großen Spaß daran, etwa den Planeten der Lust oder den Planeten des Krieges auszugestalten. Ein Interesse daran, seinen Kosmos sinnvoll zu definieren, hatte er nicht.

Mal geht es um eine Galaxis, dann um das ganze Universum, mal bilden sieben Planeten das Sternenreich, dann sind es wieder ganz viele. Geschwindigkeiten oder Entfernungen im All interessieren den Autor auch nicht im Geringsten. Und warum die Menschheit innerhalb von wenigen Monaten aussterben wird, erklärt er nicht.

Irgendwann nervte mich das grenzenlos; ich wollte nur noch wissen, wie die Geschichte zu Ende geführt wird, und war beim Cliffhanger nach dem dritten Band echt enttäuscht. Leider ist die Grafik ebensowenig überzeugend: Gimenez weiß, was er tut, normalerweise zumindest, aber diesmal sind die Menschen häufig Zerrbilder, und die Action wirkt sehr gekleckst.

Insgesamt haben mich die drei Bände von »Segmente« nicht überzeugt, weder erzählerisch noch künstlerisch. Das ist Geschmackssache, und man kann sich ja durch einen Blick auf die Internet-Seite des Splitter-Verlages und die dort vorhandene Leseprobe selbst ein Bild machen. (Schöne Comic-Bände sind's ja allemal. Aber das ist bei diesem Verlag eh eine Selbstverständlichkeit.)

19 Juli 2021

Hüpfmusik mit internationalem Charakter

Ich habe Bonaparte nie live gesehen, und mir scheint, dass ich da etwas verpasst habe. Sehe ich mir Videos an, die bei den großen Festivals aufgenommen worden sind, sehe ich vor allem tanzende Menschenmassen. Aber klar: Mit solchen Festivals kann man mich ja eher jagen … also höre ich mir die Band auf Schallplatte an.

Streng genommen ist Bonaparte ein Mann, der mit begleitenden Musikern und Künstlern auftritt. Tobias Jundt stammt aus der Schweiz und trommelt für die Auftritte seiner Band immer seine Musiker zusammen. Ansonsten steckt er hinter der Musik der Band.

Das merkt man auch auf der vierten Platte, die unter dem Titel »Bonaparte« im Jahr 2013 veröffentlicht wurde – übrigens mit einem Karton-Umschlag, bei dem die Buchstaben ausgeschnitten wurden … wieder so ein Argument, warum Vinyl immer noch toll aussieht.

Die zehn Stücke der Platte wurden in New York aufgenommen und abgemischt, sie sind stilistisch recht abwechslungsreich. Wer mag, kann das Ganze in eine Schublade mit »Indie« stecken, aber das trifft natürlich nicht so richtig zu. 

Die knalligen Stücke mit dem Sprechgesang erinnern mich manchmal an Art Brut, seltener habe ich das Gefühl bei der Musik, sie könnte mich an die Talking Heads erinnern. Manchmal sind die Lieder eher ruhig, fast im Stil eines Liedermachers, dann aber wieder ist es teilweise abwechslungsreiche und sehr dynamische Musik, die ein wenig punkig klingt und auf jeden Fall zum Hüpfen anregt.

Die englischsprachigen Texte sind witzig und manchmal sarkastisch. Sie enthalten keine politischen Aussagen, bleiben aber auch nicht an der Oberfläche, sondern erzählen manchmal skurrile, meist aber kurz gehaltene Geschichten. Das ist alles in allem sehr gelungen.

Bonaparte machen mir richtig viel Freude: eine Band mit einer großen Bandbreite, ein Sänger mit einem Sinn für Hüpfmusik, ein Gesamtpaket, das sich auf Platte gut anhört, das aber live auch zündet (oder eben gezündet hat …). Cool.

Miri In The Green im Garten

Es ist schon einige Monate her, seit ich mein letztes »richtiges« Konzert erlebt habe: im Februar 2020, kurz vor dem Ausbruch der Pandemie. Deshalb freute es mich, als ich am Samstag, 10. Juli 2021, fast aus Zufall ein Konzert im Garten des Kulturzentrums »Mikado« miterleben konnte.

Im »Mikado« hatten zu Beginn der Nullerjahre auch einige Punk-Bands gespielt; das ist lang her. An diesem Tag spielten Miri In The Green auf. Die Band stand in einem Zelt – es sah aus, als ob es bald regnen könnte –, und das Publikum saß auf Bänken und in großem Abstand im Garten davor.

Wir saßen im Biergarten, ungefähr zehn Meter neben dem Konzert, und bekamen so alles mit. So konnten wir gut essen und trinken und bekamen einen kostenlosen Kulturgenuss. Das war dann sehr nett.

Die Band macht eine Mischung aus flottem Gitarren-Pop mit einigen Chanson-Einflüssen. Die Sängerin singt auf englisch und auf französisch, die Stücke sind melodiös und gefällig, man wackelt dazu gern mit dem Kopf und kommt in gute Laune.

Irgendwann regnete es dann doch, aber das störte nicht. Die Band brach ab, das Publikum floh, wir gingen ins Innere des Restaurants – und alle hatten trotzdem eine positive Stimmung. Für ein erstes Konzert nach so langer Zeit gefiel mir das doch ganz gut.

16 Juli 2021

Norman wurde 90

Bei einem Science-Fiction-Con in den USA lernte ich ihn kennen. Mehr aus Zufall: John Frederick Lange Jr setzte sich neben mich, als wir beide einen Programmpunkt besuchten, und wir plauderten ein wenig. Ich wusste, wer er war, und für ihn war ich halt ein Science-Fiction-Fan aus Deutschland. Er war ein netter älterer Herr, sehr höflich und zurückhaltend.

Er war vor allem unter seinem Pseudonym John Norman bekannt geworden. Von ihm stammten die »Gor«-Romane, von denen ich – heute kann ich es zugeben – als Jugendlicher einige mit heißen Ohren gelesen hatte, bevor mir klargeworden war, wie frauenverachtend sie eigentlich waren. Darauf sprach ich ihn aber nicht an, und wir trennten uns nach dem Programmpunkt mit einem höflichen Lächeln.

Im Juni feierte der Autor seinen neunzigsten Geburtstag. Es scheint ihm gut zu gehen; im Mai diesen Jahres veröffentlichte er den sechsunddreißigsten »Gor«-Roman. Ich muss den nicht lesen, um zu ahnen, worum es geht: um ein klassisches Fantasy-Abenteuer mit Schwert und Magie und – vielleicht – spinnenartigen Außerirdischen, vor allem aber um »Sklavinnen« von der Erde, die es offensichtlich genießen, von Männern unterdrückt, vergewaltigt und verkauft zu werden.

Als ich zuletzt in einen »Gor«-Roman hineinsah, fand ich die Darstellung der Geschlechter widerwärtig. Dabei hatte ich eine deutsche Übersetzung vor mir, die sicher gekürzt war und die weniger Sex und Gewalt enthielt. Vielleicht bin ich für diese Art von Fantasy einfach die falsche Zielgruppe – ein »Gor«-Fan werde ich sicher nicht mehr werden. Aber als ich von John Normans neunzigstem Geburtstag hörte, horchte ich dann doch positiv auf …

Im Penthouse der Schweine

Der zweite Teil eines Doppel-Hörspiels schließt – so möchte man meinen – eine Geschichte ab. Bei »Im Penthouse der Schweine«, dem Teil 41.2 der Hörspielserie »Dorian Hunter«, ist das nur teilweise so. Für mich als Kenner der Serie wählten die Produzenten bei Zaubermond Audio damit einen spannenden Weg, ich fand das interessant.

Aber erst einmal der Reihe nach: Dorian Hunter ist mit seinen Begleitern in Rio de Janeiro unterwegs. Eigentlich suchen sie einen Mann, der mit seinen Umtrieben bereits in New York begonnen hat, bevor er sie im Dschungel fortgesetzt hat. Doch anstatt klaren Spuren zu folgen, müssen sich Hunter und seine Begleiter mit den sogenannten Schweinemenschen herumschlagen.

Parallel dazu beschäftigen ihn – gegen seinen Willen – allerlei Anrufe aus der Heimat. Das ist dann die Verbindung zu anderen Handlungsebenen. Ich fand das höchst interessant, vor allem, weil es ja gleich über das Doppelhörspiel hinausweist, denke aber, dass ein Gelegenheitshörer hier vor einige Herausforderungen gestellt wird …

Die letzten Minuten des Hörspiels sind dann auch prompt in London angesiedelt. Für den Serienkenner ergeben sich somit am Ende eine Reihe von neuen Fragen – ein echter Cliffhanger also.

In welcher Verbindung stehen der Agent Cohen und Hunters Frau Lilian mittlerweile? Welche Intrigen werden offensichtlich von Wien aus gesponnen? Und was ist eigentlich mit dem Spion im Secret Service, der anscheinend gegen Hunter und seine Leute arbeitet?

»Im Penthouse der Schweine« ist auf jeden Fall ein packendes Hörspiel für Kenner der »Dorian Hunter«-Serie. Wer sich nicht auskennt, wird massive Verständnisprobleme haben, fürchte ich.

15 Juli 2021

Oh, seliges Omega!

Ich war als Schüler sehr von mir und meinen literarischen Fähigkeiten überzeugt. Dazu trug sicher bei, dass ich in der Schule zwar keine besonders guten Noten schrieb, für meine Fanzine-Veröffentlichungen aber ziemlich gelobt wurde. Und meine ersten Auftritte mit der Literarischen Werkstatt verliefen ja auch allesamt gut.

Trotzdem hatte ich Probleme mit dem seriösen Kulturbetrieb, von dem ich als junger Amateurschriftsteller immer wieder etwas mitbekam. Dabei hatte ich es nur mit »alten Leuten« zu tun, die auf sogenannte Trivialliteratur mit einem verächtlichen Lächeln schauten. Davon war ich aus unterschiedlichen Gründen eher angewidert. 

Aus diesem Grund schrieb ich am 19. Oktober 1983 einen Text mit dem Titel »Oh, seliges Omega!«, den ich auch heute noch witzig finde. Über den literarischen Wert oder Unwert des Textes mögen bitte kritischere Menschen als ich diskutieren ...

Oh, seliges Omega

1.

Alpha Beta Gamma Delta
Epsilon Zeta Eta Theta
Tota Kappa Lambda My
Ny Xi Omikron
Pi Rho Sigma Tau
Ypsilon Phi Chi Psi
und …
na, was wohl?
Omega 

2.

Und wenn ihr,
die ihr euch zu den
Kulturbeflissenen zählt,
diese sture Aufzählung
des griechischen Alphabets
für Kultur haltet,
so seid ihr Kultur-Halbaffen.
So.

The Damned im Lyceum

Ich habe die meisten der ganz frühen Punkrock-Bands nie gesehen: In den 70er-Jahren war ich zu jung, in den 80er-Jahren gab es die Bands zumeist nicht mehr, oder sie waren schrecklich geworden. So sah ich beispielsweise auch nie The Damned, die sich mit ihren ersten zwei Platten als eine der besten Punk-Bands aller Zeiten erwiesen haben. Bis heute höre ich diese Scheiben gern.

Aber ich mag auch Live-Aufnahmen wie etwa »Live at the Lyceum 1981«, die mit »Mindless, Directionless, Energy« noch einen eigenen Titel hatte. Die Aufnahmen wurden direkt in dem Londoner Konzerthaus aufgenommen und 1987 auf Vinyl gepresst. Enthalten sind neun Stücke mit erstaunlich guter Soundqualität, die einen Eindruck davon geben, wie die Band um diese Zeit unterwegs war: eigentlich schon weg vom Punk, hin zu neuen Ufern, aber trotzdem sehr dynamisch auf der Bühne.

Klassiker wie »Smash It Up« oder »Love Song« bollert die Band mit großer Freude heraus, eine Coverversion wie der »Ballroom Blitz« kann ebenso überzeugen. Insgesamt machen die damals schon nicht mehr ganz so jungen Herren keinen Schnickschnack, sondern spielen die Stücke mit rotziger Energie herunter. Da bereue ich es doch, dass ich die Band nie gesehen habe …

14 Juli 2021

Im milchigen Blau

Ich war selbst überrascht, wie gut ich mich unter Wasser orientieren konnte. Am Grund des Sees, durch den ich mich bewegte, war es düster; das Licht, das von oben kam, wurde mehrfach gebrochen und veränderte sich. Rings um mich glitzerte das Wasser in einem milchigen Schein, der mir allerdings erlaubte, die Felsen am Boden ebenso gut zu erkennen wie die Pflanzen und die vereinzelten Tiere.

Seltsamerweise atmete ich unter Wasser, obwohl ich weder eine Maske noch sonst eine Ausrüstung trug. Ich wunderte mich darüber ebensowenig wie über die Tatsache, dass ich mit Tauchen oder sogar nur Schnorcheln gar nicht viel anfangen konnte.

Ich genoss es, wie schwerelos durch das warme Wasser zu treiben. Langsam ging ich tiefer. Die Zweige von Wasserpflanzen erstreckten sich vom sandigen Boden aus in die Höhe, sie vibrierten leicht, wenn ich an ihnen vorüberschwamm, als ob sie mit mir sprechen wollten. Die feinen Enden der Pflanzen schienen zu tanzen, gleitend und langsam, elegant und schön.

Dann stellte ich fest, dass auf einer Sandbank, die sich über mindestens ein Dutzend Meter erstreckte, ganz besondere Pflanzen wuchsen. Sie hatten keine Zweige, sondern nur einen elastischen Stamm, der fast zwei Meter in die Höhe ragte, biegsam und recht kräftig, so dick wie eine Männerfaust und von einer dunkelblauen Farbe. Neugierig ließ ich mich auf sie zu treiben.

Probeweise hielt ich mich an einem dieser Stämme fest. Es fühlte sich warm an, nicht wie eine Pflanze, schon gar nicht wie ein Stamm. Verwundert zog ich an dem Ding … und es bewegte sich!

Auf einmal löste sich die Pflanze aus dem Untergrund. Wie es sich herausstellte, war es keine Pflanze, sondern ein Tier. Am unteren Ende kam keine Wurzel, sondern ein ovaler Körper mit schwarzen und dunkelblauen Streifen, dessen Oberfläche sich kräuselte. Ein Maul öffnete sich, Zähne wurden sichtbar, der Körper bewegte sich hin und her. Auch der Stamm, nein, der Schwanz des Tieres, den ich in der Hand hielt, blieb nicht mehr bei seinem leichten Tänzeln, sondern schlug buchstäblich um sich.

Mit Mühe konnte ich meine Position halten. Die Schläge wurden stärker, es schleuderte mich zur Seite. Ich überschlug mich mehrmals, konnte nicht mehr erkennen, was oben und unten war.

Dann erwachte ich.

Ein spannendes und unterhaltsames Geschichts-Sachbuch

Eigentlich hielt ich Florian Illies immer für einen pomadig wirkenden Mann, der mit »Generation Golf« ein Buch geschrieben hatte, das ich ziemlich dämlich fand. Er kam mir immer vor wie einer dieser Jungunionisten, die mich früher so genervt hatten. Zuletzt wirkte er einige Monate lang als Verlagschef, bevor er sich wieder auf die Schriftstellerei zurückzog. Das alles machte auf mich keinen positiven Eindruck.

Doch dann las ich endlich seinen Bestseller »1913«, der bereits im Jahr 2014 erschienen war, und muss seitdem sagen: Der Kerl kann schreiben! Mit »1913« hat Illies ein Buch hingelegt, das zwar irgendwie als Geschichte-Sachbuch bezeichnet werden kann, aber von der Machart und von der Schreibe her streckenweise an einen Roman erinnert.

Das Buch teilte der Autor in Kapitel ein, die immer dem jeweiligen Monat des Jahres entsprechen, und füllte diese Kapitel mit allerlei Verbindungen. Illies erzählt von Dichtern wie Franz Kafka und seiner unerfüllten Liebe oder Gottfried Benn und Rainer Marie Rilke. Er zeigt Künstler wie Oskar Kokoschka und Musiker wie Gustav Mahler, immer wieder jedoch Autoren mit all ihren Problemen und Sehnsüchten. Die große Politik spielt stets ihre Rolle, aber sie bleibt im Hintergrund.

Den Schwerpunkt des Buches bilden das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn; Wien und Paris sind ebenfalls wichtig, gelegentlich wird nach Russland oder Amerika geblickt. Die Protagonisten in »1913« reisen viel, sie bewegen sich kreuz und quer durch Europa, sie streiten und sie lieben sich. Die Gesellschaft verändert sich langsam, aber niemand kann sich den grauenvollen Krieg vorstellen, der ein Jahr später ganz Europa in Flammen setzen wird.

Ich gestehe, dass ich dieses Buch staunend und mit wachsender Begeisterung las. Illies schreibt extrem unterhaltsam. Auch wenn man wie ich bislang wenig Ahnung von den Künstlern des Jahres 1913 hatte und vor allem nichts über ihre Beziehungen und Affären wusste, erfährt man schnell recht viel über diese Themen.

Erstaunlicherweise fand ich das alles tatsächlich interessant, keine Sekunde lang irgendwie langweilig oder unnötig. Der Autor schafft es nämlich, über all diese Personen ein Sittenbild des Jahres 1913 zu entwickeln und vor dem Leser auszubreiten.

Ich wurde während der Lektüre neugierig auf manche der Figuren, die Illies in seinem Buch auftauchen lässt, und folgte ihren Lebensgeschichten, als seien sie Romanhelden. Das ist wohl eine Stärke des Sachbuches: Es vermittelt einen Abriss der Zeit, die es darstellt, so unterhaltsam, dass man sich auch auf Themen einlässt, die einen sonst nicht interessieren.

Legt man das Buch zur Seite, kann man sich allerdings selbst dabei zusehen, wie man Stück für Stück alles vergisst, was man zuvor gelesen hat. Diese Vielzahl an Details kann sich einfach kein Mensch merken. Aber auch darin unterscheidet sich »1913« nicht von einem dickleibigen Unterhaltungsroman.

Trotzdem: »1913« war hierzulande ein Bestseller, nicht zu Unrecht. Viele hunderttausend Menschen kauften das Buch; ob sie es alle lasen, weiß natürlich niemand. Ich tat es und empfehle es gern weiter: als ein Sachbuch mit großen Unterhaltungsqualitäten.

13 Juli 2021

Ein Radweg im Juli

Aus der Serie »Ein Bild und eine Geschichte«

Dieser Tage war ich mit dem Rad in der südlichsten Pfalz unterwegs und wollte bei dieser Gelegenheit mal wieder in das Naturschutzgebiet Goldgrund radeln. Weit kam ich nicht: Der Rhein hatte das gesamte Gebiet überschwemmt. Was vorher ein Radweg war, erwies sich jetzt als ein Paradies für Wasserratten und Reiher.

Auf dem Bild sieht man es nicht so richtig, aber es war eindeutig: Vor mir war kein stehendes Gewässer, kein Altrheinarm, der vor sich hindümpelte. Da floss der Rhein, und zwar mit einer ordentlichen Geschwindigkeit. Das fand ich respektabel.

Wenn es in den nächsten Tagen so weitergeht, werden die Naturschutzgebiete sicher weiter vollaufen. Man wird die Polder fluten müssen. Mal schauen, ob das hilft, die flussabwärts gelegenen Städte wie Koblenz oder Köln vor dem Hochwasser zu bewahren ...