30 September 2022

Radfahren im Jahr 2022

Ich übe, wie man so schön sagt, eine sitzende Tätigkeit aus. Anders gesagt: Ich hocke den ganzen Tag über auf meinem Hintern, starre auf einen Bildschirm und tippe auf einer Tastatur herum. Ab und zu stehe ich auf, gehe ins Nachbarzimmer oder stelle mich an ein Stehpult. Das ist alles in allem sehr bewegungsarm.

Mein Bewegungsdrang treibt mich auf die Straße und aufs Fahrrad. Bei Regen fahre ich aber nicht gern, und wenn es richtig kalt ist, erlahmt meine Freude am Radeln auch. Das heißt, dass eigentlich nur die Monate April bis September in Frage kommen, und wegen meiner Allergien kann ich eigentlich nie vor Juni mit »richtigen« Touren anfangen.

»Richtig« heißt in meinem Fall: mehr als eine Stunde. Jeder passionierte Radfahrer lächelt da verächtlich – aber ich backe in diesem Fall eben kleine Brötchen. Und 2022 blieben es zumeist kleine Brötchen.

Dabei hatte ich mir echte Pläne gesetzt. Ich wollte bis nach Bad Bergzabern in die Pfalz fahren, bis nach Bad Herrenalb in den Schwarzwald, bis nach Schwenningen und bis nach Baden-Baden – das sind übrigens alles Ziele, die sich in vernünftiger Zeit erreichen lassen.

»Vernünftig« heißt hier wieder: Man ist schon mal vier Stunden unterwegs. Und diese Zeit bekam ich praktisch nie freigeschaufelt, der Zeitdruck bei der Arbeit hielt mich erfolgreich davon ab. Immerhin bekam ich es endlich einmal auf die Reihe, mit dem Rad nach Bad Herrenalb zu fahren – das hatte ich zuletzt 1993 geschafft, als ich aus dem Murgtal hoch- und über Bad Herrenalb wieder vom Berg hinuntergefahren war.

Alle anderen großen Touren – »groß« für meine Verhältnisse – konnte ich mir abschminken. Einige Zweistünder gab’s, viel mehr aber nicht. Ich hoffe auf 2023. Oder ich zwinge mich bei trockenem Wetter auch in der kühlen Jahreszeit auf mein Rad und fahre mehr als nur eine halbe Stunde durch die Gegend ...

29 September 2022

Zukunftsperspektive Karlsruhe

Als ich durch die Innenstadt von Karlsruhe radelte, kam ich am Marktplatz vorbei und sah eine Reihe von großformatigen Plakaten. Sie standen unter dem Titel »Zukunftsperspektive« und stellten Menschen aus der Ukraine ins Zentrum. Ein großes Bild zeigte meist eine Person als Porträt, ein kleineres Bild dieselbe Person irgendwo in Karlsruhe, in Begleitung idealerweise.

Ich hielt an und sah mir die Bilder allesamt an, las auch die Texte dazu. Eine schöne Aktion der Jüdischen Gemeinde in Karlsruhe: Flüchtende Menschen aus der Ukraine werden hier vorgestellt, mit ihren Schicksalen (ausgebombt, geflüchtet, die ganzen Dramen) und ihren Träumen (Fuß fassen in Karlsruhe, Kinder auf die Schule schicken, eben solche Dinge).

Das fand ich gut: Ich weiß, dass in der Nähe des Hauses, in dem wir wohnen, Dutzende oder gar Hunderte von Flüchtlingen untergebracht sind. Man merkt es an den Autos mit ukrainischen Kennzeichen in der Nachbarschaft und an den Leuten, die neuerdings im Park oder auf der Straße unterwegs sind und in einer bislang unbekannten Sprache miteinander reden. Aber so bekommen viele Schicksale ein klareres Gesicht als bisher.

Another Time Another Planet

Schon in den 90er-Jahren fing die Zeitschrift »Rolling Stone« damit an, ihren Heften allerlei CDs beizuheften. Ich kaufte die Zeitschrift ja nie, trotzdem befindet sich die CD »Another Time Another Planet« in meinem Besitz. Der Grund ist einleuchtend: In der Ausgabe 96/06 des Magazins spielte die Science Fiction eine wichtige Rolle, und deshalb landete das Heft auf meinem Tisch.

Es handelt sich um »Rare Trax«, in denen es im weitesten Sinne um Science-Fiction-Themen geht. Mit Hawkwind und der »Silver Machine« ist immerhin ein Stück vertreten, das ich schon vorher kannte. Mit den Residents und Jad Fair gibt es zudem Bands oder Musiker, die ich kannte, ebenso die Butthole Surfers und den Flaming Lips – das ergibt eine spannende Mischung.

Musikalisch ist das alles eher schwergängig, das genannte Hawkmind-Stück hat als einziges eine eingängige Melodie und kann als unterhaltsam gewertet werden. Die Sängerin Yma Sumac war stets schwierig anzuhören, aber auch die bekannteren Bands sind mit nicht eben einfachen Stücken vertreten.

Es ist eine interessante Compilation, die man sich auch Jahrzehnte nach der Veröffentlichung anhören kann. Eingängig und leicht ist das allerdings nicht – aber spannend!

28 September 2022

Ein grausiger, ein mitreißender Roman

1999 erschien der Roman »1974« zum ersten Mal in englischer Sprache, verfasst von dem damals noch jungen Autor David Peace. Es war der erste Roman des Schriftstellers, er kam auch gut an, aber es dauerte einige Zeit, bis er in die deutsche Sprache übersetzt wurde. Und endlich habe ich ihn auch gelesen – ich habe mir die Hardcover-Ausgabe gegönnt, die im Liebeskind-Verlag erschienen ist.

Worum geht’s? Um das Jahr 1974. Logisch.

Die Bay City Rollers laufen im Radio, Frauen werden von ihren Vorgesetzten ständig mit »Schätzchen« angeredet, in der Polizei herrschen Rassismus und Brutalität vor. Ein junger Reporter wittert seine Chance, sich einen Namen zu machen, als er zu einer Pressekonferenz gerufen wird: Ein Mädchen wird vermisst, und alle ahnen bereits, dass es schon tot ist.

Das ist nur der Anfang zu einer brachialen Reise in die Dunkelheit. Der Reporter kommt immer mehr düsteren Geheimnissen auf die Spur und wird Zeuge unfassbarer Polizei-Brutalität. Das Ende des Romans ist dann konsequent: sehr brachial, sehr direkt, sehr hoffnungslos.

Vor allem der Stil haut einen um. Peace verzichtet auf längere Beschreibungen, er schreibt derart knapp, dass es einem fast die Sprache raubt. Die Dialoge sind rabiat und direkt, sie bestimmen die Handlung zu gut zwei Dritteln.

Gewalt und Sex werden derb gezeigt, die Perspektive des Ich-Erzählers ist eindeutig und fast schon grausig. Entweder findet man das faszinierend und bleibt dabei, oder es stößt ab und man legt den Roman zur Seite. Ein Zwischending gibt es wohl nicht.

(Und ich muss an dieser Stelle klar eine Triggerwarnung aussprechen: Wer keine Brutalität lesen mag, sollte die Finger von diesem Werk lesen. Wobei die Brutalität kein Selbstzweck ist, sondern zur Handlung gehört. Sie wird auch nicht ausschweifend geschildert, geht aber unter die Haut.)

Ich fand »1974« sowohl mitreißend als auch großartig. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, blätterte ich es noch einmal durch und las einzelne Szenen ein zweites Mal, um sie mir in Erinnerung zu rufen. Die Bilder bleiben nach der Lektüre sowieso im Gedächtnis.

Hammer!

27 September 2022

Starke Mixtur aus Science Fiction, Horror und Comic-Kunst

Es ist eine seltsame Welt, durch sich die Schwestern Rain und Emma bewegen: Im Süden von Spanien hoffen sie darauf, die Geister ihrer Eltern zu treffen. Ohne zu wissen, was sie erwartet, haben sie sich auf diese Reise begeben, die sie mit dem möglichen Untergang der Menschheit und seinen Hintergründen konfrontiert. Am Ende ist nicht nur das Leben der beiden jungen Leute völlig anders – so viel Spoiler darf wohl sein –, sondern auch die Erde sieht anders aus.

Der Grund: Offensichtlich kehren die Geister von verstorbenen Menschen auf die Erde zurück. Wieso dieses »Verhalten« begonnen hat und welchen Hintergrund es dafür gibt, weiß anfangs niemand. Auf einmal stehen leuchtende Gestalten an der Stelle, an der die Menschen gestorben sind – und es werden unaufhörlich mehr.
Während sie lange Zeit nur herumstehen, verändert sich von einer Sekunde zur anderen das »Verhalten« der Leuchterscheinungen – und eine Welle des Todes rollt über die Erde hinweg ...

Mit seinem Roman »Phantasmen« begeisterte mich der Schriftsteller Kai Meyer bereits vor einigen Jahren. Seine spannende Mischung aus Science Fiction und Horror – es geht zwar um allerlei Geister, aber Meyer findet dafür wissenschaftlich klingende Begründungen – empfand ich als rasant geschrieben und extrem unterhaltsam. Glaubhafte Charaktere, eine sich steigernde Spannungskurve und überraschende Wendungen: ein Roman, der ein größeres Publikum verdient gehabt hätte.

Die Geschichte verändert mehrfach ihre Richtung: Was anfangs durchaus nach einer gruseligen Jugendgeschichte aussieht, wird später zu einem Science-Fiction-Stoff und endet in einem krachigen Action-Thriller. Da der Autor immer auf der Seite seiner jungen Helden bleibt, fesselte mich das Buch über die gesamte Laufzeit. Und das setzt sich bei der Comic-Version entsprechend fort.

Jurek Malottke, der mit »Das Fleisch der Vielen« vor einiger Zeit bereits eine Kai-Meyer-Novelle in einen Comic umgesetzt hatte, arbeitete lang und intensiv an einer grafischen Version von »Phantasmen«. Dabei entstand eine gelungene Symbiose aus Text und Bild, die sehr künstlerisch rüberkommt, die aber auch konservativen Comic-Fans wie mir gefallen kann. Wer einen ungewöhnlichen Comic zu schätzen weiß, sollte »Phantasmen« antesten; auf der Internet-Seite des Splitter-Verlags steht eine kostenfreie Leseprobe zur Verfügung. 

Erschienen ist der Comic im kleinen Hardcover-Format – also nicht in der Größe eines Albums, sondern eher im Format eines Comic-Heftes –, das sehr schön aussieht. »Phantasmen« umfasst 240 Seiten und kostet 35,00 Euro. 

(Diese Rezension ist bereits auf der Internet-Seite der PERRY RHODAN-Serie erschienen und wird hier zu dokumentarischen Zwecken wiederholt.)

In der Südsee verschollen

Ich mag die Comics des französischen Künstlers Patrick Prugne: Sein aquarellhafter Stil verbindet sich mit einem Sinn für historische Details. Vor allem seine Darstellungen der Kriege, die französische und englische Soldaten sowie indianische Verbündete im Nordamerika des 18. Jahrhunderts führten, sind eindrucksvoll. Mit »Vanikoro« geht er in die Südsee – trotzdem ist es ein Comic, der in die bisherige Reihe mit »Frenchman« oder »Pawnee« passt.

Erzählt wird von zwei französischen Fregatten und ihrer Besatzung. Beide Schiffe stranden bei einem Sturm im Jahr 1788 an einer Südseeinsel; bis heute weiß niemand, was aus den Menschen an Bord geworden ist. Patrick Prugne greift in seinem Comic die historischen Tatsachen auf – alle Franzosen, die eine Rolle spielen, gab es wirklich – und verbindet diese mit einer packenden Handlung.

Die französischen Matrosen, Forscher und Soldaten kommen in Kontakt zu den Eingeborenen der Insel, es entwickeln sich Konflikte, es gibt Tote. Wie sich das Verhältnis zwischen den einzelnen Gruppen zuspitzt und wie es sich am Ende auflöst, das erzählt Prugne in spannenden Szenen, die mir völlig realistisch vorkommen.

Wie gut der Künstler recherchiert hat, zeigt er im Anhang. Seine Skizzen stellen historische Details und Gerätschaften dar; die Häuser der Inselbewohner sind ebenso nachgearbeitet worden wie die Ausrüstung der Franzosen.

Erneut begeistert mich der Stil: Prugne malt im Prinzip Aquarelle, die eine packende Situation ebenso zeigen wie ein Landschaftsbild oder einen Sturm auf dem Ozean. Er ist in der Lage, in seinem speziellen Stil alle Details zu präsentieren. Es lohnt sich, die Leseprobe auf der Internet-Seite des Splitter-Verlags anzuschauen!

Ein wunderschöner Comic: toll gezeichnet, spannend erzählt, hervorragend gedruckt und ausgestattet.

26 September 2022

Eine Treppe hinunter

Ich war spazieren, gemütlich ging ich durch einen Park. Blätter raschelten, ein sanfter Wind ging, es war kühl, aber trocken. Ich hielt mich auf dem offiziellen Weg, verließ diesen nicht, und als er auf eine Treppe zuführte, hielt ich zuerst an.

Wie es aussah, führte der Weg die Treppe hinunter, dann einige Meter unter dem Niveau des Parks weiter, bevor es danach wieder nach oben ging, erneut über eine Treppe. Den Sinn dieser Konstruktion verstand ich nicht.

Zwar hätte ich auch außen herum gehen können, aber dann wäre ich über den Rasen gelaufen. Also entschied ich mich, dem vorgegebenen Weg zu folgen. Ich ging die Treppe hinunter, stand dann auf den Steinplatten eines Ganges.

Rechts und links gingen jeweils zwei Gänge ab, alle vier waren mit Holztüren verschlossen. Das Holz wirkte alt, die Eisenbeschläge ebenfalls, alles sah aber massiv und sehr stabil aus. Hier brauchte ich nicht einmal zu versuchen, einen Durchgang zu finden.

Also ging ich weiter, erklomm die Treppe auf der anderen Seite, die mir auf einmal viel höher vorkam, um an ihrem oberen Ende festzustellen, dass sie mit einem Zaun verschlossen war. Es war ein grobmaschiger Maschendrahtzaun, durch den ich vielleicht mit einem Fuß gekommen wäre, nie aber mit dem gesamten Körper.

Genervt blieb ich stehen. Sollte ich umkehren und durch den Park zurückgehen, sollte ich nach einem anderen Weg suchen? Ich erkannte, dass auch der Bereich rechts und links – also oberhalb der Seiten, wo sich die Türen befanden – mit einem grobmaschigen Zaun eingegrenzt war. Dort käme ich also auch nicht durch.

Ich drehte um, durchquerte erneut den abgesenkten Bereich und erklomm die Treppe, die ich zwei Minuten zuvor heruntergekommen war. Auch dort erwartete mich ein Zaun. Er war frisch errichtet worden, er schimmerte in einem hellen Grün. Entnervt rüttelte ich daran – hier käme ich sicher nicht durch.

Was sollte ich machen? Niemand war in dem Park unterwegs, es hatte also keinen Sinn, um Hilfe zu rufen. Ich versuchte, über den Zaun zu klettern, merkte aber, dass die Drahtstücke zu weich waren und mir keinen Halt gaben. Frustriert stand ich vor dem Zaun und wusste nicht, was ich tun sollte.

Da wachte ich auf.

23 September 2022

Die Rechtsextremen und der Krieg

Es lohnt sich immer, das »Antifaschistische Infoblatt« zu lesen, das seit vielen Jahren erscheint und das ich seit einiger Zeit wieder abonniert habe. Die aktuelle Ausgabe 135 lohnt sich ganz besonders: Sie zeigt auf, wie sich rechtsextreme Organisationen in Europa zum aktuellen Krieg in der Ukraine verhalten.

Was ist an dem Gerücht dran, in der Ukraine seien rechtsextreme Söldner an der Front? Wie verhalten sich die putin-begeisterten Nazis angesichts des Krieges?

In mehreren Artikeln geht das 68 Seiten starke Heft auf diese Fragen ein. Die Namen von Organisationen und Personen werden genannt, ihr Verhalten angesichts des Krieges aufgedeckt. Auch die Frage, wie sich die Antifa als Nicht-Organisation gegenüber dem Krieg verhalten soll, wird angesprochen.

Und natürlich geht es ebenso um die historische Dimension: Wie wütete die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine, welche Rolle spielten die Ukrainer im Vernichtungskrieg des Dritten Reiches?

Wie immer finden sich einige allgemeine Beiträge in diesem Heft. Ich finde stets interessant, neues von der NPD zu erfahren – die war in den 80er-Jahren in den Dörfern, in denen ich unterwegs war, noch stark verbreitet. Daneben geht's um Repressionen des Staatsschutzes gegen Antifa-Leute oder allgemeinen Rassismus.

Ich schaffe es nicht immer, das »Antifa-Info« komplett zu lesen. Das ging mir schon früher so, weshalb ich mein Abonnement auch mal auslaufen ließ. Aber diese Ausgabe habe ich von vorne bis hinten durchgeschmökert – eine lesenswerte Zusammenstellung!

An leeren Parkplätzen vorbei

Jahrelang fand ich es praktisch: Ich fuhr mit meinem Auto aus Karlsruhe hinaus und in Richtung Rastatt. Dabei kam ich an den Einkaufsmöglichkeiten von Mühlburg vorbei, einem Teilort von Karlsruhe. Oft hielt ich an, um noch eine Überweisung zu tätigen oder mir Brezeln bei einem guten Bäcker zu kaufen.

Ich nutzte die sogenannte Brötchentaste: Ich ging zum Parkautomaten, drückte die grüne Taste zweimal und konnte dann eine halbe Stunde lang »für umme« parken. Wer länger als eine halbe Stunde hielt, musste etwas bezahlen. Das führte dazu, dass auf diesen Parkplätzen ein stetiger Wechsel herrschte.

Das ist jetzt anders. Fahre ich morgens oder abends durch diese Straße, ist die Hälfte der Parkplätze leer. Die Brötchentaste wurde abgeschafft, ein Anhalten kostet ab der ersten Sekunde gleich Geld. Spontane Einkäufe werden einem so verleidet.

Klar, ich kann mit dem Rad vorbeifahren; das mache ich auch oft genug: an Tagen, an denen ich früh Feierabend mache oder an denen ich daheim arbeite. Wenn ich aber morgens spontan ein Brötchen oder eine Brezel kaufen möchte, fahre ich zu einem der Supermärkte, wo ich kurz kostenlos parken kann. Möchte ich Bargeld am Bankomaten holen, fahre ich ebenfalls woanders hin. So machen es offenbar viele.

Mir leuchtet der Sinn dieser »Maßnahme« nicht ein. Offensichtlich hat man es erfolgreich geschafft, den parkenden Verkehr drastisch zu reduzieren und den örtlichen Geschäftsleuten so die Spontankäufer zu vergraulen. Wenn ich morgens im Stau – die Straße war früher zwei-, jetzt ist sie einspurig – an den leeren Parkplätzen vorbeirolle, wundere ich mich auf jeden Fall oft genug über die »Maßnahmen« …

22 September 2022

Konservativ-guter Oi!, echt!

Wenn es eine Spielart von Punk gibt, die immer ein wenig konservativ klingt – außer bei den ganz alten Stücken um 1980 und 1981, als alles frisch war –, ist es wohl eindeutig Oi!: Die Musik läuft meist eher in einem mittleren Tempo, die Texte sind nicht zu kompliziert, und die Band ruft immer mal wieder Oi! ins Mikrofon. Manchmal ist aber genau das die Musik, die ich an manchen Tagen sehr gern höre.

Dann lege ich eine Platte auf, bei der ich mir sicher sein kann, dass die Band nicht zu textlichen Ausfällen neigt. In diesem Fall griff ich zu Guts’n’Glory; die fünf nicht mehr ganz so jungen Skins und Punks stammten aus Hannover. Einige von ihnen hatten vorher bei der hervorragenden Band Souls On Fire zusammengespielt – bei Guts’n’Glory setzten sie vor allem auf klassischen Oi! in mittlerer Geschwindigkeit.

Die Langspielplatte »Here To Stay« wurde 2008 aufgenommen und ist richtig gut: kein Hochgeschwindigkeitssound, aber das hätte ich auch nicht erwartet, stattdessen rockige Melodien und ein Sänger, der nicht brüllt und keift, sondern mit ordentlichem Wumms seine Textzeilen von sich gibt. Das klingt nicht unbedingt nach breitbeinigem Männlichkeitsgehabe und dem Verherrlichen von Alkohol oder Straßengewalt.

In den englischsprachigen Texten geht es vor allem um alltägliche Themen, die gewissermaßen erzählt werden. »Me and the boys« lungern halt auf der Straße herum, erleben dort allerlei Dinge, und davon singt die Band. Das ist letztlich ein wenig konservativ – nichts Neues in Oi!hausen also. Aber das hat ja auch niemand erwartet.

21 September 2022

Eine popkulturelle Reise in die 50er-Jahre

Der Zweite Weltkrieg war vorüber, das Land lag noch in Trümmern, der Aufbau hatte begonnen: In den fünfziger Jahren begann die Zeit des Wirtschaftswunders, und der Aufschwung sorgte dafür, dass man in Westdeutschland bald positiv in die Zukunft blicken konnte. Darüber schrieb Rainer Eisfeld das Sachbuch »Rock'n'Roll und Science Fiction«, das ich zuletzt gelesen habe und als Lektüre empfehlen möchte.

Der Untertitel »Wie die Bundesrepublik modern wurde« zeigt deutlich, in welche Richtung es inhaltlich geht. Eisfeld zeigt die Entwicklung in den fünfziger Jahren und widerlegt das Klischee, diese Zeit sei grau und langweilig gewesen. Ganz im Gegenteil: Schon in den fünfziger Jahren rumorte es in der Jugend, wurden junge Frauen und Männer aufmüpfig und entwickelten ihre eigenen Jugendkulturen, meist am Beispiel amerikanischer Filme orientiert.

Das Buch basiert teilweise auf dem Sachbuch »Als Teenager träumten – die magischen 50er-Jahre«, das in den 90er-Jahren im Nomos-Verlag veröffentlicht worden ist. Es gibt nun neue Kapitel, andere wurden stark verändert.

Man muss das Buch nicht am Stück lesen, das ist auch nicht unbedingt sinnvoll. Im Prinzip handelt es sich um eine Zusammenstellung von Texten, die jeweils verschiedene Aspekte beleuchten: Musik und Mode, junge Leute im Allgemeinen und Science Fiction im Besonderen.

Das Buch ist reichhaltig bebildert, und die Bilder sorgen in Verbindung zu den gut geschriebenen und sehr unterhaltsamen Texten für einen informativen und bunten Einblick in eine Zeit, die schon recht lange in der Versenkung verschwunden scheint.

Ich mochte natürlich die Science-Fiction-Themen, aber auch die Musik war spannend. Warum kam Elvis Presley eigentlich so an? Welche Rolle spielte damals das Radio? Und warum war ausgerechnet in der Zeit, in der Rock’n’Roll nach Deutschland kam, der Schlager so populär? Okay, auf diese Frage gibt es keine Antwort – zumindest nicht in diesem Buch –, aber das ist vielleicht auch ein ganz anderes Thema.

»Rock’n’Roll und Science Fiction« wirft einen lebensnahen, unterhaltsamen und informativen Blick auf ein Jahrzehnt, das einem schon vorkommt wie die graueste aller grauen Vergangenheiten. Es ist im Verlag Dieter von Reeken erschienen, und ich empfehle es all jenen, die gerne auf die Vergangenheit blicken, zu dieser aber eine kritische Distanz haben. Lohnenswerte Lektüre!

20 September 2022

Schöne Ausgabe des SF-Klassikers

Ohne Zweifel zählt »Trigan« zu den großen Comic-Klassikern der Science Fiction. Mitte der 60er-Jahre wurden die ersten Seiten dieses Comics veröffentlicht, und durch ihn wurde Don Lawrence zu einem Star des Genres. Bei Panini erscheint die Serie seit einiger Zeit in einer schönen Hardcover-Neuausgabe, und ich habe den ersten Band endlich mal gelesen.

Die Serie war immer eine Legende für mich. Als ich anfing, mich für Science Fiction und Comics zu interessieren, galt »Trigan« bereits als wichtig. In den frühen 80er-Jahren wurde mir vermittelt, dass die Serie vor allem politisch eher heikel sei, also fast schon faschistisch. Und als ich irgendwann einen Band las, der mitten in der Serie angesiedelt war, konnte ich damit nicht viel anfangen.

Und jetzt? Knifflig.

Sagen wir so: Als die Serie vor über fünfzig Jahren gestartet wurde, war sie sicher ein Kracher. Die Illustrationen waren großartig, die Geschichte – wenn man nicht zu sehr darüber nachdachte – sicher spannend. Anfangs wurde die Geschichte zudem so veröffentlicht, dass in jeder Ausgabe einer Comic-Zeitschrift zwei Seiten kam. Alle zwei Seiten musste also ein spannender Höhepunkt kommen, was die sehr sprunghafte Handlung erklärt.

Sehe ich mir das heute an, muss ich klar sagen: Die Handlung ist schon arg schlicht. Aus Nomaden, die am Anfang durch die Gegend ziehen, werden ruckzuck Städtebauer und dann Leute, die Raumgleiter fliegen können. Trigan ist ein schlauer Kopf, der alles richtig macht, und seine Gegenspieler sind durch die Bank intrigant und vor allem strunzdumm.

Immerhin ist der erste Band nicht so politisch wie spätere »Trigan«-Geschichten: Ich erinnere mich, dass spätere Alben durchaus als »faschistoid« bezeichnet werden könnten. Die linken Comic-Kritiker der 70er- und 80er-Jahre fanden dafür sowieso viel gröbere Begriffe.

Seien wir fair: Aus historischen Gründen ist »Trigan« ein Meisterwerk. Dass Panini dieses große Werk in einer schönen Hardcover-Ausgabe veröffentlicht, ist sehr verdienstvoll. Ich werde davon aber sicher kein Fan mehr werden …

19 September 2022

Die Queen sei gesegnet

Ich gehöre zu den Leuten, denen das englische Königshaus immer egal war. Mir war die glamouröse Diana-Hochzeit damals gleichgültig, die meine halbe Familie und die halbe Schule ins Entzücken versetzte. Ich habe keine Ahnung, wer von den Diana-Söhnen jetzt welche Prinzessin geheiratet hat oder nicht. Es hat alles mit meinem Leben nichts zu tun.

Eigentlich habe ich nur eine Beziehung zur Queen: das Sexpistols-Stück »God Save The Queen«, das ich schon beim ersten Hören famos fand, ohne seine wahre Sprengkraft zu verstehen. Aber mir als 13 Jahre altem Jungen war bewusst, dass es hier einen echt fetten Tritt in den Allerwertesten des Spießertums gab – weil ich damals nichts für das englische Königshaus übrig hatte, fesselte mich aber eher der sichtlich wütende Sänger.

Die Königin ist mittlerweile gestorben, die britische Nation erstarrt in Trauer, halb Europa und gut ein Viertel der Welt scheint mitzutrauern. Sogar in Deutschland hängen Trauerflore an den öffentlichen Bannern.

Es soll meinetwegen jeder Mensch trauern, wie er oder sie will. Und natürlich soll auch jeder Mensch um jeden anderen Menschen trauern. Das ist in Ordnung. Ich habe schon um Punkrock-Gitarristen getrauert, mit denen ich nie gesprochen habe – es ist also in Ordnung, wenn jemand den Tod der Queen betrauert.

Aber ich bin schon jetzt froh, wenn diese Trauerei vorüber ist. Dann fällt es mir wieder leichter, das englische Königshaus egal zu finden …

16 September 2022

Im Hotel in Bencoolen

Bei meinem Aufenthalt in Singapur zu Beginn des Jahres 2007 kam ich in den unterschiedlichsten Hotels unter. Ich hatte praktisch nur die ersten Nächte im Voraus gebucht, war dann für einige Tage auf der indonesischen Insel Bintan und musste mich danach immer wieder neu orientieren.

Das war aber eines der Ziele meines Aufenthalts in dieser Stadt: Weil mein Roman zu einem großen Teil in Singapur spielen sollte, musste ich unterschiedliche Teile der Metropole sehen.

Gegen Ende meines Aufenthaltes mietete ich mich in einem Hotelkomplex ein, der zur Kette »Hotel 81« gehörte und sich in der Innenstadt erhob. Die Bencoolen Street war für mich verkehrsgünstig: Von hier aus kam ich zu Fuß überall dorthin, wo ich hinwollte, vor allem zu den öffentlichen Verkehrsmitteln und zu den Plätzen, wo ich recherchieren, schreiben und Leute beobachten konnte.

Das Hotel selbst war nicht so brillant, was ich aber im Voraus schon wusste. Mein Zimmer war preiswert, lag aber innen. Anders gesagt: Ich hatte kein Fenster, durch das ich ins Freie gucken konnte. Da ich im Zimmer ohnehin nur schreiben und schlafen wollte, war das nicht weiter schlimm. Das Zimmer war sauber, und das Personal war freundlich – was wollte ich mehr?

Es gab sowieso genug zu tun: Auf der anderen Straßenseite befand sich ein großes Restaurant, wo ich abends oft saß und noch ein Bier trank, manchmal auch zwei. Ich gewöhnte mich an Eiswürfel im Bier, was ich mir in Deutschland nie hätte vorstellen können. Aber es war abends immer noch so warm, dass man sehr schnell hätte trinken müssen.

Nun ... das ist dann wohl eine andere Geschichte über das Hotel 81 in der Bencoolen Street ...

Fantasy-Roman mit ungewöhnlichem Weltenbau

Das meiste an Fantasy-Literatur, was ich in den vergangenen Jahrzehnten gelesen habe, hat seine Wurzeln im weitesten Sinne in den europäischen Sagen und Legenden. Bekannte Beispiele wie »Der Herr der Ringe« oder »Conan der Barbar« zehren von diesen Traditionen; der gesamte Bereich der sogenannten Völker-Fantasy mit seinen Elfen und Zwergen, Orks und Trollen wiederum stammt in direkter Linie vom »Herrn der Ringe« ab. In jüngster Zeit ergänzt Fantasy mit afrikanischen oder asiatischen Wurzeln das Genre.

Dazu zählt auch die Daevabad-Trilogie der amerikanischen Autorin S. A. Chakraborty, die beim Erscheinen in den USA für zahlreiche Preise nominiert wurde und auf positive Kritik stieß. Der erste Band ist unter dem Titel »Die Stadt aus Messing« erschienen, und ich habe ihn gelesen. (Der zweite Teil der Trilogie liegt ebenfalls schon vor, der dritte wird noch in diesem Jahr erscheinen.) Die Mixtur aus Action und Magie, aus orientalischen und muslimischen Wurzeln, aus schnellen Szenen und guten Dialogen – das alles fesselte mich.

Man muss klar sagen: Wer beispielsweise im Iran oder in Pakistan aufgewachsen ist, für den ist die Welt, die in der Daevabad-Trilogie gezeigt wird, wahrscheinlich vertraut. Für mich war sie streckenweise sehr fremd. Weil sie aber so gut geschildert war, faszinierte sie mich schnell und ließ mich tief in eine spannende Welt voller Magie und Gefahren eintauchen.

Die Handlung hat ab der ersten Seite genügend Tempo und Charme aufzuweisen. Das liegt an der weiblichen Hauptfigur, die sich auf den Straßen der ägyptischen Metropole Kairo behaupten muss. Sie beherrscht eine Art von Magie, die ihr in manchen Situationen zwar hilft, in anderen Situationen aber nicht weit genug trägt. Damit macht sie die falschen Mächte auf sich aufmerksam – sie beschwört einen Dschinn, und dieser verwickelt sie in ein Abenteuer, das weit über ihren bisherigen Horizont hinausgeht.

Gemeinsam mit dem Dschinn reist sie in die faszinierende Stadt Daevabad – in der geheimnisvollen Metropole aus Messing sei sie sicher. Schnell stellt sie fest, dass sie an einen Ort gelangt ist, an dem die Magie geradezu brodelt. Dschinns aller Art, magische Wesen und allerlei Intrigen beherrschen die Stadt, alter Glaube und alter Hass binden die Menschen und die Angehörigen anderer Völker an Sitten und Traditionen.

S. A. Chakraborty schaffte es in bewundernswerter Weise, diese Stadt vor meinen Augen lebendig werden zu lassen. An der Seite der Heldin und einiger Nebenfiguren tauchte ich ein in das quirlige Leben einer phantastischen Metropole, die bewusst an Indien oder den Vorderen Orient erinnert. Die Sonne scheint, die Hitze ist groß, überall brodelt das Leben, und zwischen hektischen Märkten und ganz gewöhnlichen Menschen entfaltet sich eine Reihe von Konflikten zwischen den mächtigen Familien.

Die Charaktere sind allesamt vielschichtig angelegt. Aber sie sind nicht unbedingt »gut«, sondern fallen gern aus dem klassischen Raster heraus. Man versteht, warum sie sich entsprechend verhalten, auch wenn man als Leser vielleicht nicht unbedingt mag, was sie tun. Vor allem die weibliche Figur fesselt durchgehend, an ihrer Seite lernt man einen faszinierenden Kosmos kennen. Die Autorin beschreibt alles bildhaft und spannend, die Szenen folgen schnell aufeinander, und damit erzeugt sie einen Sog, dem man als Leser kaum entkommen kann.

In diese phantastische Welt tauchte ich sehr gern ein. Wer Fantasy mag und vor allem einen originellen Blick auf einen neuen Roman-Kosmos werfen will, sollte »Die Stadt aus Messing« unbedingt antesten! Erschienen ist der Roman als schön gestaltetes Paperback im Panini-Verlag mit einem Umfang von 608 Seiten. Wer sich ein wenig einlesen möchte, findet bei Panini eine kostenlose Leseprobe

(Diese Rezension erschien ursprünglich auf der Internet-Seite der PERRY RHODAN-Redaktion und wird hier wiederholt, weil es ja eh ein persönlicher Text ist.)

15 September 2022

Eine Brücke im Wald

Seit vielen Jahren fahre ich mit meinem Rad – oder unterschiedlichen Rädern im Lauf der Zeit – durch Karlsruhe und Umgebung. Und immer wieder bin ich baff, was ich so sehe, wenn ich bei einem längst bekannten Weg einfach mal rechts ab und »ins Gebüsch« fahre.

So ist es, wenn ich der Alb entlang fahre. Die Alb ist ein Flüsschen, das sich durch Karlsruhe windet, bevor es in den Rhein mündet. Zwischen dem Rheinhafen sowie den Ortsteilen Grünwinkel und Daxlanden erstreckt sich ein kleines Waldstück, durch das die Alb fließt – es ist also inmitten der Stadt.

Verlässt man dort den offiziellen Weg und wechselt auf eine leicht verschlammte Strecke, ist man nach fünfzig Metern bereits in einem Gelände, das einem wie ein Bannwald oder zumindest ein leicht verwildertes Stück Schwarzwald vorkommt. Gras wuchert, es riecht nach Moder, Tiere rascheln im Gebüsch, Vögel fliegen aufgeschreckt herum.

Und weitere fünfzig Meter weiter steht man vor einer Brücke, die also mitten im Stadtgebiet zu finden ist. Es geht keine Straße darüber, und ich habe keine Ahnung, wofür sie einmal gedient haben mag. Vielleicht führte die Schmalspurbahn darüber, die vor hundert Jahren durch die Stadt führte. Spannend ...

14 September 2022

Fremde Gesellschaften auf fremden Welten

In einer nicht genau definierten Zukunft, einige hundert Jahre von unserer Zeit entfernt: Die Menschheit hat sich ins All ausgebreitet, mehrere Planeten sind bereits besiedelt worden. Man reist mit unterlichtschnellen Schiffen bis in ferne Sonnensysteme, dort werden sogenannte Sternenbrücken errichtet, über die dann ein schneller Kontakt möglich ist. Doch im Lauf der Zeit kommt es zu Veränderungen, die nicht alle Menschen gleichermaßen gut finden …

Robert Corvus ist ein Autor, der sich in den verschiedensten Bereichen der phantastischen Literatur zu behaupten weiß. Mit seinen Fantasy-Romanen stand er bereits mehrfach auf der Bestsellerliste, bei PERRY RHODAN begeistert er seine Leser mit ideenreicher Science Fiction, und seine eigenständigen Science-Fiction-Romane werden stets von der Kritik gelobt. Von ihm stammt der Roman »Sternenbrücke«, der im Frühjahr 2022 im Piper-Verlag veröffentlicht worden ist.

Bei seiner Geschichte behält der Autor vor allem eine Figur im Fokus: Yul Debarra ist ein Arzt, der unter einem Trauma leidet. Seine Frau hat an fortgeschrittenen Computersystemen gearbeitet und ist verschollen – die Sternenbrücke zu einer fernen Welt namens Anisatha ist zusammengebrochen. Will man die Sternenbrücke wiederherstellen, muss erst ein Raumschiff dorthin fliegen, damit die Besatzung alle technischen Einrichtungen reparieren kann. Debarra willigt ein, diesen Flug mitzumachen, auch wenn das bedeutet, dass er sich für über hundert Jahre in einen Kälteschlaf legen muss.

Als es zur Begegnung mit den Bewohnern von Anisatha kommt, stellt man fest: Nach gut 150 Jahren hat sich dort eine eigenständige menschliche Kultur entwickelt, deren Angehörige nichts mehr mit der Erde zu tun haben wollen. Die Konfrontation beginnt …

Debarra muss sich entscheiden. Will er weiterhin die von Konzernen geprägte Kultur der Erde unterstützen, oder soll er sich auf das Risiko einlassen, sich der Kultur von Anisatha anzuschließen, egal, wie fehlerhaft diese sein mag?

Robert Corvus schreibt spannend, seine Darstellung der Hauptfigur ist stets glaubhaft. Action und Sex, Beschreibungen und politische Gedankenspiele – das alles wird aus einer klaren Erzählhaltung heraus vermittelt. Dadurch bleibt das Geschehen stets plastisch, der Roman ist von Anfang bis Ende sehr unterhaltsam.

Mir persönlich gefiel, dass der Autor zwei Gesellschaftssysteme herausarbeitete, die beide ihre Schwächen und Stärken haben: Beide sind für das jeweils andere sehr fremdartig, obwohl sie alle »nur« von Menschen betrieben werden.

Seine Hauptfigur hat selbst ihre Ecken und Kanten. Ihr Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht ist zumindest diskutabel, seine Flucht in eine virtuelle Welt macht sie auch nicht unbedingt sympathisch. Damit wiederum wirkt Debarra aber wesentlich lebensnaher als ein strahlender Held, wie man ihn sonst oft in unterhaltender Literatur findet. Und weil Debarra seine Ecken und Kanten hat, nimmt er die politischen Systeme jeweils unterschiedlich dar, wechselt zwischendurch auch mal seine Meinung.

»Sternenbrücke« ist ein Science-Fiction-Roman, in dem die technischen Beschreibungen eher kurz gehalten sind, in dem es vor allem um Gesellschaften geht – und natürlich um die Menschen, die sich in ihnen bewegen müssen. Der Roman lädt somit auch zum Mitdenken und Reflektieren ein, und das mochte ich sehr. Empfehlenswert!

(Diese Rezension erschien bereits auf der Internet-Seite der PERRY RHODAN-Serie und wird an dieser Stelle zu Dokumentationszwecken wiederholt. Ist ja schließlich auch ein subjektiver Text von mir ...)

Horror-Textsammlung, schon ein wenig älter

Malte S. Sembten war ein Autor, dessen Geschichten ich vor allem in den 90er-Jahren in diversen Zeitschriften immer wieder gern las. Er starb 2016 viel zu früh. Im Jahr 2000 veröffentlichte der Verlag Robert Richter die Textsammlung »Die ein böses Ende finden«, die ich mir damals kaufte – sie versackte dann in einem Lesestapel. Dort habe ich sie dieser Tage herausgefischt und endlich gelesen.

Die meisten der Geschichten sind vorher in anderen Publikationen veröffentlicht worden: in »Andromeda« etwa, dem Magazin des Science-Fiction-Clubs Deutschland, oder in »Daedalos«, das ich in den 90er-Jahren abonniert hatte. In der Zusammenstellung waren sie aber neu für mich, vor allem deshalb, weil der Autor sie grundlegend bearbeitet hatte.

Im Großen und Ganzen handelt es sich um Geschichten aus dem Segment der Dunklen Phantastik, auch des Horrors. Die Bandbreite ist dabei recht groß, was belegt, dass der Autor durchaus vielseitig zu schreiben vermochte.

So gibt es mit »Der Jumbee« eine Geschichte, die in den Südstaaten der USA spielt, zu einer Zeit, in der Schwarze Menschen vor allem als Sklaven wahrgenommen worden sind. Die Geschichte ist gruselig, sie ist stark erzählt, heute müsste man sie wohl wegen einiger Begriffe – die aber historisch exakt sind – mit einem Trigger-Hinweis versehen.

Den bräuchte es auch bei der trashigen Geschichte »Pizza-Party bei den DINKs«, die mit allerlei Splatter-Effekten arbeitet. Man muss sie echt nicht gelesen haben, sie gehört aber irgendwie zum Horror-Genre dazu.

Zum Ausgleich gibt es dann auch wieder so etwas wie »Morbus Azathoth«, die eine klassische Geschichte von H. P. Lovecraft gewissermaßen fortsetzt. Wer diesen ganz klassischen Horror-Stil mag, kommt hier auf seine Kosten.

Malte S. Sembten war ein konservativer Autor, was man auch an der – eher albern wirkenden – Aussagen zur damaligen Rechtschreibreform zu Beginn des Buches merkt. Seine Geschichten sind ebenfalls eher konservativ: Der Autor verzichtet auf Experimente, was aber nicht schadet – sie sind gut geschrieben und stets unterhaltsam.

Zehn Geschichten auf knapp über 180 Seiten: »Die ein böses Ende finden« ist eine Textsammlung, die man immer noch lesen kann und die gut unterhält. Man kann sie antiquarisch finden – wer also einen interessanten deutschen Schriftsteller entdecken mag …

13 September 2022

Eine Geschichte von Träumen und Verfolgung

Die Geschichte beginnt im Jahr 1938 in Berlin und endet 1945 in Shanghai. Sie erzählt von der Zeit der Nazi-Diktatur und dem Terror gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland. Und sie ist ein Beispiel dafür, dass ein Comic-Roman mehr über historische Ereignisse erzählen kann als ein Sachbuch. Ich las dieser Tage »Shanghai Dream«, der als schöner Hardcover-Band im Splitter-Verlag erschienen ist – im Original waren es zwei Bände.

Zur Handlung: Bernhard Hersch ist ein begeisterter Filmemacher, seine Frau Illo schreibt Drehbücher. Sie träumen davon, gemeinsam einen Film zu verwirklichen, es gibt auch schon ein Drehbuch. Doch die Reichspogromnacht und die politischen Folgen machen einen Strich durch die Rechnung: Jüdische Bürger wie sie werden entrechtet, das Leben für sie wird zur Hölle. Sie entscheiden sich, ihren Traum zu vergessen und ihr Leben zu retten. Ein mögliches Ziel: die ferne Stadt Shanghai, in der Juden tatsächlich der Aufenthalt gewährt wird …

Dass Juden während des Zweiten Weltkriegs aus Deutschland nach Shanghai fliehen konnten, ist historisch verbürgt. Bekannt ist es den meisten Menschen nicht. Ein Comic, der ein solches Thema aufgreift, ist also zu begrüßen. Vor allem, wenn er es so gut macht wie dieser hier.

Grundlage für alles ist eine Geschichte von Edward Ryan und Yang Xie. Philippe Thirault setzt sie in eine spannende Handlung um. Die Szenen im nationalsozialistischen Berlin sind hart, die Szenen in Shanghai anfangs von Hoffnung geprägt – doch auch dort kommt bald eine Ernüchterung.

Illustriert wird der Comic von Jorge Miguel. Die Zeichnungen sind realitätsnah; die Figuren wirken glaubhaft, die Städte und Wohnungen sehen sauber recherchiert aus. Ob Berlin oder Shanghai, ein Schiff oder ein Lager – alles hat einen historisch klaren Charakter.

»Shanghai Dream« erzählt eine tragische Geschichte, bringt durch den Film immer einen Funken Hoffnung in das Geschehen. Den 112 Seiten starken Comic-Band empfehle ich deshalb gern jenen, die ernsthafte Geschichten und historische Themen schätzen. Auf der Splitter-Seite kann man sich davon anhand einer Leseprobe überzeugen.

12 September 2022

Einige Tage in Vals

Es war sicher eine der besten Ideen, in diesem Sommer einige Tage in der Schweiz zu verbringen. Wir besuchten Vals, das sich auf einer Höhe von rund 1250 Metern und in einem sehr schmalen Tal befinden. Und während auf Karlsruhe in diesen Tagen Temperaturen von 35 bis 40 Grad herrschten, hatten wir in Vals oftmals nur 17 oder höchstens mal 22 Grad, und es nieselte oder regnete gar immer wieder.

Das tat sogar gut. Die Spaziergänge in dem Schweizer Dorf, das exakt so aussieht, wie man sich so ein Dorf vorstellt, waren angenehm. Es waren wenige Leute unterwegs, der Autoverkehr hielt sich sehr in Grenzen. Wenn man zwischen den Häusern hindurch spazierte, hörte man eher das Klingeln von Glocken, die an den Hälsen der Ziegen und Schafe hingen, die man an manchen Stellen grasen sah.

Ich mag die Berge, also musste ich auch einmal einen Berg hinauflaufen. Bis zum Gipfel reichte es nicht, dafür hätte ich sowieso eine andere Ausrüstung gebraucht, aber es entwickelte sich ein schöner Spaziergang, der entlang des Tals immer höher führte und von oben beeindruckende Ausblicke auf die Täler und Berge der Schweizer Alpen bot. Ich hoffe, dass ich in absehbarer Zeit wieder einmal in diese Gegend komme.

(Und ja: Die Schweiz ist teuer. Aber das wusste ich ja vorher.)

11 September 2022

Wenn es Herbst wird ...

Aus der Reihe »Ein Bild und seine Geschichte«

Fahre ich in diesen Tagen mit dem Rad in den Wald oder auf die Wiesen rings um Karlsruhe, muss ich immer aufs Wetter achten: Leichter Nieselregen macht nichts, ein starker Regen verdirbt mir aber die Laune – obwohl ich weiß, wie wichtig es nach diesem langen heißen Dürresommer ist, dass es an einigen Tagen durchregnet.

Es fällt auf, wie sich der Wald in diesen Tagen verändert. Dank des Regens sprießt frisches Grün aus dem Boden. Überall lockern grüne Halme die dürren Stellen auf, und das kommt eine vor wie im Frühling. 

Auf der anderen Seite wirken die Bäume oft, als hätten wir bereits Oktober: Die Blätter sind gelb und rot, an manchen Stellen fallen sie einfach herunter.

Aber die Luft ist anders. In den heißen Tagen im Juli und August roch der Wald oft nach Harz, er dampfte und schwitzte geradezu. Radle ich jetzt zwischen Bäumen und Büschen hindurch, nehme ich frische Gerüche war, aber auch den von Moder, von alten Bäumen und feuchtem Holz. Schön!

10 September 2022

Schauspieler, Linke, Polizisten

Der Film »Moskau Einfach!« wurde bereits 2020 veröffentlicht, kam wohl sogar in die Kinos, wurde von mir aber nicht einmal registriert – sicher wegen Corona, womöglich auch wegen eines nicht optimalen Vertriebs. Weil man ihn bei einem der bekannten Streamingdienste anschauen kann, habe ich ihn nun endlich gesehen.

Der Film spielt im Jahr 1989: In Berlin fällt die Mauer, in der Schweiz bespitzeln Polizisten mit unheimlicher Akribie alles, was sie als links und revolutionär betrachten. Ein junger, sehr spießig auftretender und völlig unsicherer Polizist wird in das örtliche Theater eingeschleust, wo er über die Schauspieler sowie alle Vorgänge genaue Berichte verfassen soll.

Der Undercover-Einsatz klappt gut, fast zu gut – der junge Polizist verliebt sich in eine Schauspielerin. Die ist dummerweise, wie er nicht gleich mitbekommt, die Tochter eines führenden Beamten der Schweiz.

Der Regisseur Micha Lewinsky verwebt in diesem durchaus amüsanten Film echte und ernsthafte Themen – die massive Bespitzelung, die in der Schweiz damals noch üblich war, sowie den Mauerfall – mit einer Beziehungskomödie. Das ist nicht superlustig, aber immer wieder amüsant. Für Süddeutsche wie mich ist die Sprache gut verständlich, allen Norddeutschen empfehle ich, die Funkion mit den Untertiteln einzuschalten.

»Moskau Einfach!« ist kein genialer Film, aber ein gelungenes Stück Unterhaltung. Ich mag's, wenn ernsthafte Themen durchaus komisch umgesetzt werden – und das ist hier gelungen.

Eine toll umgesetzte Science-Fiction-Idee

In den vergangenen Jahren hat sich der chinesische Schriftsteller Cixin Liu zu einem der großen Stars in der Science Fiction entwickelt. Weltweit werden seine Romane gelesen und teilweise auch abgefeiert. Es liegt also nahe, auf Basis seiner Romaen und Geschichten eine Reihe von Comics zu veröffentlichen. Ich habe mir vorgenommen, sie alle zu lesen …

Im Splitter-Verlag kam im Sommer 2021 die Geschichte »Yuanyuans Blasen« als Comic-Album heraus. Ich habe den Comic endlich durchgeschmökert und möchte ihn an dieser Stelle ausdrücklich für Science-Fiction-Fans empfehlen: Er ist unterhaltsam erzählt und schön gezeichnet, und er enthält eine positive Botschaft.

Dabei ist der Anfang durchaus traurig und dramatisch. Yuanyuan ist ein Mädchen, das mit seinen Eltern in der Stadt Silk Road City lebt; die Stadt wurde an den Rand einer Wüste gesetzt, ständig droht das Ende, weil es zu wenig Wasser gibt. Yuanyuan liebt Seifenblasen, und aus dieser Freude eines kleinen Kindes entwickelt sie später, als sie eine erwachsene Frau ist, eine wahre Besessenheit.

Cixin Liu spannt in seiner Kurzgeschichte einen Handlungsbogen über viele Jahre hinweg. Menschen werden älter, technische Entwicklungen wichtiger. Die Stadt wird aufgegeben, sie scheint zu zerbröckeln, doch Yuanyuan möchte sie retten und vor allem dazu beitragen, dass ihre Erfindung für mehr Regen und damit Fruchtbarkeit in der Wüste sorgt. Dabei entwickelt das Mädchen seine eigenen Visionen, die im Verlauf der Jahre zu technischen Entwicklungen werden. Am Ende gibt es einen Ausblick in eine bessere Zukunft.

Nach der Kurzgeschichte von Cixin Liu entwickelte Valérie Mangin den Text für den Comic; ein anderes Medium verlangt schließlich eine andere Erzählweise. Es müssen mehr Dialoge geschrieben werden, während Beschreibungen durch Bilder entnommen werden können. Das gelingt der Autorin sehr gut. Sie verwandelt die Kurzgeschichte in eine wunderbare Comic-Erzählung über das Erwachsenwerden und über Träume, die man sich auch im Alter bewahren kann.

Gelungen sind ebenso die Bilder, die Steven Dupré beisteuert. Sie sind realistisch, die Figuren wirken stets glaubhaft, ebenso die Städte und ihre Gebäude oder die endlose Wüste. Die Bilder bekommen einen phantastischen Charakter, wenn die großen Blasen ins Bild kommen, aber sie wirken trotzdem ernsthaft. Ausdrucksstarke Gesichter zeichnen die Figuren, die glaubhaft altern, klar und eindeutig – das gefällt mir alles sehr gut.

Mit »Yuanyuans Blasen« liegt eine ausgesprochen sympathische Comic-Geschichte vor. Sie gehört eindeutig zur Science Fiction, ist aber so gehalten, dass auch Leute, die sonst keine SF mögen, von ihr angesprochen werden – vor allem wegen der Hauptpersonen, die einem Leser einfach gefallen dürften. (Wer sich einen Eindruck verschaffen möchte, prüfe die Leseprobe auf der Internet-Seite des Splitter-Verlags.)

(Diese Rezension erschien bereits auf den Seiten der PERRY RHODAN-Redaktion und wird an dieser Stelle »nur« dokumentiert.)

09 September 2022

Ein Blick auf Mordor

Aus der Serie »Ein Bild und seine Geschichte«

Da radelte ich also am frühen Abend über die Wiesen und durch den Wald, weil ich ein wenig Bewegung brauchte. Es nieselte immer wieder, was mich nicht störte – ich hatte ja eine Kappe auf. Die Temperaturen sanken beständig, aber weil ich mich bewegte, machte das auch nichts aus.

Als ich auf der Heimfahrt war, oberhalb von Neureut, also nördlich von Karlsruhe, zog sich der Himmel zu. Es sah aus, als blickte ich in Richtung Mordor. Schnell machte ich ein Foto. Ich beobachtete den Himmel eine Weile, stellte dann aber fest, dass sich kein flammendes Ungetüm zeigte, und fuhr beruhigt weiter.

Auf der anderen Seite der Stadt zeigte sich übrigens ein prachtvoller Mond. Zwischen Mond und Mordor kehrte ich dann nach Hause zurück ...

08 September 2022

Klassische SF in »Orbit«

Warum die Science-Fiction-Fans ihre eigene Szene in den Niederlanden besser im Griff hatten als die Fans in Deutschland, weiß ich nicht. Auf jeden Fall entwickelte sich dort eine Science-Fiction-Szene – so nach meiner Wahrnehmung –, die professioneller und positiver war als die Szene in Deutschland. Ein schönes Beispiel ist die Zeitschrift »Orbit«, von der mir die Ausgabe drei aus dem Jahr 1978 vorliegt. Ich kann kein holländisch lesen, aber man sieht doch schnell, was an diesem Heft gut ist.

Die Macher hatten keine Scheuklappen. Zwei prominente amerikanische Science-Fiction-Autoren (Jack Williamson und Robert Sheckley) standen gleichberechtigt neben dem PERRY RHODAN-Autor Clark Darlton und Kathinka Lannoy – zu dieser Zeit eine populäre niederländische Schriftstellerin, die unter anderem historische Romane verfasste – auf dem Titelbild.

Als zentrales Thema bot man den damals brandneuen Film »Unheimliche Begegnung der 3. Art« auf. Dazu kommen ein Comic und eine Kurzgeschichte vom damaligen Jungautor George R. R. Martin, der so unbekannt war, dass man seinen Namen nicht auf dem Titelblatt vermerkte.

Heute mag einem das Layout der 48 Seiten im A4-Format vielleicht ein wenig altmodisch anmuten, vor allem setzen die Seiten mehr auf Texte als auf Bilder. Damals war »Orbit« ein wichtiges Magazin für die niederländische Szene und eines, von dem man in Deutschland kaum zu träumen wagte.

07 September 2022

Schläge oder Schreiben

»Der hat seine eigenen Methoden«, hieß es über den Lehrer, der an unserem Gymnasium vor allem für Englisch und Geschichte zuständig war. Ich hatte ihn in keinem Unterrichtsfach und kannte ihn nur vom Sehen: eine steif wirkende Gestalt mit einem strengen Bart, die stets einen braunen Cordanzug trug. Damit passte er gut ins Kollegium in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre: für den Zweiten Weltkrieg zu jung, für die Studentenbewegung zu alt.

Als er vor uns in der Turnhalle stand, fand ich ihn noch merkwürdiger. Er trug einen Trainingsanzug in derselben braunen Farbe wie sonst seine Anzüge. Er wirkte ernsthaft und steif, und er sah vor allem so aus, als könnte er nicht auch nur andeutungsweise lachen.

Sein Unterricht, den wir an diesem Tag in Sport erhielten, unterschied sich nicht groß von dem des Lehrers, der uns sonst durch die Halle scheuchte. Wir bemerkten allerdings den entscheidenden Unterschied, als er uns Aufstellung halten ließ.

Wir sollten uns in zwei Reihen vor ihm gruppieren: »Die Kleinen von euch stellen sich nach vorne, die Großen nach hinten, dann kann ich euch alle gut sehen«, befahl er mit schnarrender Stimme.

Es dauerte eine Weile, bis wir da schafften. Erste Versuche unterband er schroff, und er war erst nach einiger Zeit zufrieden. Dann hielt er uns eine Ansprache über Disziplin, was zum Sport dazu gehöre, und über den Ehrgeiz, den man brauche, um seine Ziele zu erreichen. Das sei auch wichtig für das Leben im Allgemeinen.

Er hob den Zeigefinger und fixierte einen Schüler, der links außen stand und einen größeren Bauchumfang besaß. »Wer zu viel isst und sich zu wenig bewegt, stirbt früher«, sagte er drohend. »Du solltest dein Leben ändern.«

»Denn dann wird man groß und hässlich, und wenn man groß genug ist, darf man braune Klamotten tragen«, sagte Manne, der neben mir in der zweiten Reihe stand, kicherte leise und stieß mich in die Seite.

Ich kicherte ebenfalls. »Braun wie Kacke«, ergänzte ich. Wir waren elf oder zwölf Jahre alt und machten uns über die politische Bedeutung von Farbe noch keine Gedanken.

Einige andere Schüler, die das kurze Gespräch mitbekommen hatten, lachten leise. Für einige Augenblicke herrschte Chaos in den geordneten Reihen.

Der Lehrer fuhr herum. Er hatte sich bemerkt, wer gelacht hatte, und sah uns nacheinander an. »Du, du und du.« Mit dem Zeigefinger stocherte er in unsere Richtung. »Vortreten.«

Wir sollten bestraft werden. Es sei klar: Wir seien respektlos gewesen, das ginge nicht, und dafür sollten wir eine Strafe erhalten. Und er stellte uns vor die Wahl: »Entweder du schreibst zur Strafe einen Aufsatz von fünf Seiten, oder du willigst ein, dass ich dir fünf Schläge mit der flachen Hand verabreiche.«

Wir starrten uns an. Schläge? In unserer Zeit? Ich glaubte es nicht.

Der Lehrer beharrte auf seiner Ansicht. »Wer sich freiwillig für die Schläge entscheidet, kann dann nicht sagen, ich hätte gegen seinen Willen gehandelt. Das ist alles rechtlich abgesichert.«

Tatsächlich legten sich nacheinander die Schulkameraden über einen Stuhl, so dass ihr Hintern nach oben zeigte. Und nacheinander bekamen sie fünf Schläge mit der flachen Hand auf den Hintern.

Ich blieb stehen. Ich sagte nichts, ich wusste keinen schlauen Spruch.

»Und du?«, fragte er Lehrer dann.

»Ich schreibe lieber«, sagte ich trotzig.

Ich bekam die Strafarbeit. Zwar musste ich dann etwas schreiben, auf das ich keine Lust hatte, irgendeinen Aufsatz über ein Bild und seine Bedeutung – aber es war mir lieber, als Schläge zu kassieren. Und ich hatte das Gefühl, etwas für mich zu tun.

06 September 2022

Die zweite Staffel von »Guilt«

Eine Frau hat ein Problem: Ihr Mann konsumiert zu viel Kokain, und er scheint auch noch sein Geld zu verspielen. Ihre Probleme werden allerdings gleich viel größer, als nicht nur ihr Mann mit einer Kugel im Körper mausetot im Keller liegt, sondern daneben ein anderer Mann, den sie erschossen hat. In dieser Lage kann ihr nur einer helfen: ihr Vater, seines Zeichens ein Gangster, der große Teile der Geschäfte in Edinburgh kontrolliert …

Das ist der Ausgangspunkt für die zweite Staffel der Krimi-Fernsehserie »Guilt«. Die erste Staffel sah ich vor nicht allzulanger Zeit, als sie in der Mediathek bei ARTE zu finden war. Die zweite Staffel steht derzeit dort kostenlos zur Verfügung – frage mich keiner, zu welchen Zeiten man sie »live« im linearen Fernsehen und damit in der Glotze angucken kann.

Man braucht nicht unbedingt die Vorkenntnisse aus der ersten Staffel, um diese zweite Staffel zu kapieren. Schließlich kam ich auch ruckzuck in die Handlung rein, und ich besitze keinerlei dieser Vorkenntnisse mehr – nach der Zeit habe ich alles vergessen. Die Figuren und ihre Motivationen packen mich ja trotzdem gleich.

»Guilt« ist ungewöhnlich erzählt. Schnell wechseln die Szenen, der Humor ist sehr düster, Brutalität wird nur angedeutet. Auf spritzendes Blut und andere Sauereien wird verzichtet, die Serie setzt auf gute Dialoge und viele Andeutungen. Man muss als Zuschauer schon geistig dabei bleiben, sonst verliert man schnell den Anschluss.

Aber um es ganz klar zu sagen: »Guilt« packte mich bei der ersten Staffel schon, und die zweite fand ich auch großartig. Wer originelle Krimis und Fernsehunterhaltung mit Hirn mag, sollte mal einen Blick in die ARTE-Mediathek werfen …