»Gefreiter Frick.« Der junge Mann, der mich auf dem Flur des Erdgeschosses ansprach, war vermutlich so alt wie ich.
Aber ich war Gefreiter in der Ausbildungskompanie und er ein Rekrut im zweiten Monat. Wir waren beide wehrpflichtige Soldaten, aber ich war sein Vorgesetzter. Er gehörte zu den Rekruten, deren Zimmer in direkter Nähe zu den Offiziersbüros lagen; sie wurden öfter kontrolliert, bekamen aber auch viel mit.
Ich hielt an. »Ja?«
Eigentlich war bereits Dienstschluss, die Zeit zwischen Abendessen und verordneter Bettruhe. Die Rekruten hatten frei, ich hatte ebenfalls frei. Und eigentlich wollte ich in das Zimmer, das ich mit einigen anderen Gefreiten bewohnte, um dort ein wenig zu lesen. Doch der Rekrut, der vor mir stand, wirkte unsicher und stur zugleich.
»Der Oberleutnant …«, fing er an, unterbrach sich dann, als ob er nicht wüsste, was er sagen sollte.
Ich ahnte es. »Hat er wieder etwas ans Schwarze Brett gepinnt?«, fragte ich.
Der Rekrut nickte nur.
»Ich kümmere mich«, versprach ich. »Danke, dass Sie mir das gesagt haben.« Ich nickte ihm zu und drehte mich um.
Bis zum Schwarzen Brett waren es nur ein Dutzend Meter. Es war im Eingangsbereich des Gebäudes befestigt, direkt neben dem Treppenhaus. Hier wurden Aushänge angebracht, die die gesamte Kompanie betrafen; hier hing gelegentlich auch ein offizielles Schreiben des Verteidigungsministeriums.
Es war streng verboten, private Aushänge am Schwarzen Brett anzubringen. Es war ebenso streng verboten, Dinge abzuhängen, ohne dafür einen offiziellen Befehl des Kompaniechefs zu erhalten. Die Regeln waren eindeutig; in diesem Frühsommer 1985 herrschte noch die Wehrplicht, und niemand konnte sich vorstellen, dass der Warschauer Pakt bald zusammenbrechen würde.
Ich blieb vor dem Schwarzen Brett stehen. Links unten hing ein Zeitungsartikel, der am Nachmittag nicht dort angebracht gewesen war. Schriftart und Inhalt wiesen darauf hin, dass er aus der »Nationalzeitung« stammte, dem rechtsradikalen Blatt, das ich gelegentlich bei den Unteroffizieren und auch bei den Offizieren gesehen hatte.
Mir war der Oberleutnant oft durch seine Sprüche aufgefallen. Jeder wusste, dass er Naziblätter las, und jeder wusste, dass er immer wieder heimlich Ausschnitte aus der Zeitung am Schwarzen Brett befestigte. So wie auch jeder zu wissen schien, dass ich sie immer abnahm, wenn ich davon erfuhr. Ein Rekrut traute sich noch nicht, das Schwarze Brett zu »säubern«, was mir einleuchtete, ich sah es mittlerweile als meine Aufgabe an.
Ich las den Dreck nicht, den der Oberleutnant für wichtig gehalten hatte, sondern riss ihn herunter, zerknüllte ihn und warf ihn einige Meter weiter in einen Mülleimer.
Als ich die Treppe hinaufging, hörte ich ein leises »Danke« aus dem Flur. Dann wurde die Tür zu einem Zimmer geschlossen. Achselzuckend ging ich weiter.
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