Meine Mutter erwischte mich dabei, wie ich mit einem Roman des deutschen Schriftstellers Heinz G. Konsalik auf dem Sofa saß: »Was liest du denn da?« Bücher waren ihr suspekt, sie las selbst nicht und fand es seltsam, dass ich mich stundenlang in einen Schmöker vertiefen konnte.
Ich zeigte ihr den Roman, nicht unbedingt stolz wegen meiner Lektüre, aber auch nicht selbstkritisch. Es war »Der Arzt von Stalingrad«, ein bereits ziemlich zerlesenes Taschenbuch, das einem Klassenkameraden gehörte und von diesem nacheinander allen möglichen Jungs ausgeliehen wurde.
Ich war elf Jahre alt und politisch noch sehr unsicher; das meiste, was ich im Radio mitbekam, verstand ich ohnehin nicht. Aber den Roman fand ich ebenso spannend wie die anderen Werke des Schriftstellers, die ich in diesem Herbst 1974 las. Rassistische Klischees fielen mir nicht auf, die Darstellung deutscher oder russischer Soldaten hinterfragte ich nicht.
Die Darstellung des Zweiten Weltkriegs, vor allem der Ostfront, fand ich eben faszinierend. Mein Vater erzählte so gut wie nichts über die Jahre 1943 bis 1945, in denen er bei der Wehrmacht gewesen war; also versuchte ich mir mein Weltbild durch Bücher zusammenzuzimmern. Sachbücher wie »Unternehmen Barbarossa« lieh ich in der Dorfbücherei aus, Romane besorgten mir Schulfreunde.
Meine Mutter betrachtete das Buch. »Stalingrad«, sagte sie leise. Tränen traten in ihre Augen.
Ich war verwirrt und legte das Buch neben mich. Was hatte ich falsch gemacht? Mein Vater war doch nicht in Stalingrad gewesen, sondern in Orscha und Minsk, in der Slowakei und in Schlesien. So viel wusste ich immerhin.
»Der Onkel Wilhelm«, erläuterte sie. »Mein Onkel also. Der war in Stalingrad, der ist dort geblieben. Niemand weiß, was aus ihm geworden ist.«
»Ist er gefallen oder in Gefangenschaft gestorben?« Ich hatte zu dem Onkel keinerlei emotionale Beziehung, also stellte ich meine Frage eher nüchtern.
Nun weinte sie. »Wir wissen es nicht. Meine Mutter hat mir immer seine Briefe vorgelesen, und als der Umsturz kam, hat sie alle verbrannt.« Mit »Umsturz« meinte meine Mutter das Kriegsende, und sie war nicht die einzige Person, die diesen Begriff benutzte. »Die waren immer so schlimm, das war kaum auszuhalten.«
»Was hat er denn geschrieben?«
»Frag nicht. Wie schlimm das alles ist. Wie schlimm der Krieg ist. Und wie sie in Stalingrad gefroren und gehungert haben. Und dann hat er geschrieben, in seinem letzten Brief …« Sie brach ab. »Die Russen kriegen mich nicht, hat er geschrieben, vorher gibt er sich die Kugel.«
Ich blickte auf das Buch. Ich wusste nichts über meine Verwandtschaft und ihr Verhalten während der Nazi-Zeit. Man sprach nur selten über diese Jahre, und manchmal brachen die Gespräche der Erwachsenen ab, wenn wir Kinder in die Nähe kamen. Meine Versuche, mithilfe von Konsalik-Romanen ein wenig vom Krieg zu erfahren, kamen mir selbst falsch vor – aber ich wusste nicht, wie ich hinter das Schweigen kommen sollte.
»Und dann?«, fragte ich weiter.
»Dann haben wir nichts mehr vom Onkel Wilhelm gehört«, antwortete sie, während sie versuchte, ihre Tränen mit einem Stofftaschentuch abzuwischen. »In der Zeitung kam, dass die sechste Armee kapituliert hätte, aber wir hörten nichts mehr von ihm. Auch nach Kriegsende nicht. Er gilt als verschollen. Der gute Onkel Wilhelm, der arme Onkel Wilhelm.«
An diesem Tag erlangte meine Mutter nicht mehr ihre fröhliche Art zurück. Immer wieder schniefte sie und wirkte traurig. Ich versteckte »Der Arzt von Stalingrad«, damit sie nicht mehr deshalb weinte, las das Buch zu Ende, fand es mitreißend und gab es meinem Klassenkameraden zurück.
Danach sprach ich daheim nie wieder von Stalingrad.
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