12 Februar 2021

In der alten Kaserne

Ich hatte Lust, mir mal wieder die Gegend anzusehen, in der früher mein Großvater gewohnt hatte. Sein Haus existierte längst nicht mehr, und auf der Wiese, wo wir als Kinder noch Ostereier gesucht hatten, stand ein Industriebetrieb. Aber auf der anderen Seite der Bahnlinie, das war mir bekannt, erstreckte sich entlang eines Hügels eine Kaserne, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den Franzosen genutzt worden war.

Mit meinem Rad steuerte ich das Viertel an, das mir völlig fremd vorkam. Wann war ich zum letzten Mal dort unterwegs gewesen? Ich wusste es nicht, es musste lange Zeit her sein. Ich fuhr durch das große Tor, an dem sich kein Wachhäuschen mehr erhob, und rollte vorsichtig über das Kopfsteinpflaster.

Rechts und links standen die Kasernengebäude, die längst in Wohnungen umgewandelt worden waren. Zwischen ihnen hatte man zusätzliche Wohnhäuser errichtet, teilweise mit Steinmauern umgeben, deren Krone mit roten Dachziegeln bewehrt waren. Dadurch hatte sich eine enge Bebauung ergeben, die mich eher an Kleinstädte in Frankreich erinnerte als an eine Kaserne.

Irgendwann schob ich mein Rad, die Straßen wurden enger und ein wenig steil. Rechts und links kamen immer wieder Torbögen, durch die ich in Innenhöfe sehen konnte. Neben den Toren wiesen große Schilder darauf hin, wer in dem Haus wohnte oder welche Firmen sich dort angesiedelt hatten. Alle Namen waren in französisch, also hatte man in der Kaserne den französischen Charakter beibehalten, obwohl ich mich im Schwarzwald aufhielt.

Bei einem Hof nahm ich an, dass sich dahinter eine Weinhandlung befand. Neugierig betrat ich ihn und stellte mein Rad ab. Die Ladentür war verschlossen. Ich betätigte eine Klingel, aber niemand kam. Also sah ich mich um und entdeckte eine Tür nebenan, die nur angelehnt war.

Ich stieß sie auf, kam in ein Treppenhaus und ging die Stufen hoch. Dann erreichte ich einen Flur, in dem ich nur gebückt weitergehen konnte. Ich rief »Hallo!«, aber niemand antwortete. Also ging ich weiter, und der Flur wurde niedriger, bei jedem Schritt, den ich zurücklegte. Er verwandelte sich in eine Abfolge kleiner Zimmer, durch die ich mich richtiggehend zwängen musste.

In einem Zimmer sah ich ein Kinderbett, über dem buntes Spielzeug baumelte, im anderen Zimmer erhob sich ein trutziges Regal, in dem allerdings nichts stand oder lag. In einer winzigen Küche waren Teller und Tassen so auf einem Tisch angeordnet, als ob jemand erst kurz davor gegangen wäre. Aber ich traf niemanden an.

Immer wieder rief ich »Hallo!« oder »Ist da jemand?«, aber kein Mensch antwortete. Als ich ein Wohnzimmer betrat, das erstaunlich groß und hell war, schöpfte ich Hoffnung. Ich trat an das Fenster, durch das die Sonne schien. Von dort aus hatte ich einen Blick über die Wohnanlage, über die Wiesen dahinter, auf die Kulisse der Stadt, die sich auf dem nächsten Hügel erhob.

Und dann erkannte ich, was im Hof geschah: Ein Bagger rollte durch das Tor; wer ihn fuhr, sah ich nicht. Er steuerte mein Rad an, das mitten im Weg stand. Ich schrie vor Entsetzen auf, drehte mich um und wollte losrennen.

Da wachte ich auf.

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