Man würde heute sagen, sie war durch den Krieg traumatisiert. Sie selbst hätte das nie so formuliert. Aber ich war mir sicher, dass viele Ängste und Sorgen meiner Mutter aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs kamen.
Sie wurde am 15. Februar 1931 geboren und wuchs im sogenannten Dritten Reich auf. Als »der Führer« durch Freudenstadt fuhr, um den Westwall im Schwarzwald zu besichtigen, stand sie am Straßenrand und schrie wie alle anderen »Sieg heil!« Das Kriegsende war für sie immer verbunden mit dem Beschuss von Freudenstadt, der brennenden Innenstadt und den zahlreichen Vergewaltigungen, die sie teilweise mitbekam.
Direkt nach dem Krieg arbeitete sie als »Mädchen für alles« im Haushalt der Eltern, dann als Hilfsarbeiterin bei verschiedenen Firmen. Sie pflanzte Bäume im Wald, sie war zeitweise Weberin, sie arbeitete in einer Raffinerie und in einer Druckerei, sie zog zwei Kinder auf, sie war lange Zeit als Putzfrau in einem Unternehmen beschäftigt, das ihre Sozialbeiträge nicht abführte, und deshalb erhielt sie zuletzt eine Rente, die deutlich unter dem Hartz-IV-Satz lag.
Ich habe meine Mutter als pfiffig und bauernschlau in Erinnerung, als eine Frau, die sich nur langsam aus alten Denkmustern entfernte. Sie gewöhnte sich langsam an mein sehr anderes Leben: Als ich noch daheim wohnte, übernachteten bei Science-Fiction-Cons manchmal ein Dutzend Leute bei mir; manchmal beherbergte sie auch Punks – nicht unbedingt begeistert, aber mit zupackender Nächstenliebe. Und wenn wir einen Con im Jugendzentrum veranstalteten, kam sie vorbei, um uns »Fasnetsküchle« zu bringen.
Gebildet war sie nicht. In ihrem ganzen Leben las sie nur ein einziges Buch; Lesen war für sie eine Pflicht, keine Entspannung. Sie sang gern und laut, sie war im Kirchenchor, und sie hatte viele Bekannte und Freundinnen im Dorf. Ich bedauere sehr, dass ich es nicht mehr schaffte, sie mal ins Auto zu setzen und nach Südfrankreich zu kutschieren – das Ausland hatte sie praktisch nie gesehen: ein bisschen Elsass und Südtirol, die Schweiz und Österreich, mehr nicht.
Heute wäre meine Mutter neunzig Jahre alt geworden. Gestorben ist sie in den Nuller-Jahren. Ich denke noch oft an sie.
2 Kommentare:
Sehr schöner Text. Jetzt fehlt nur noch das Bild aus »Zwei Whisky mit Neumann« wo sie Dir mit dem Regenschirm droht.
Ich hatte mir überlegt, das Bild zu posten – aber das hätte den Charakter des Textes verändert, fürchte ich. Obwohl es ja schon typisch ist für unser Verhältnis, das wir irgendwann hatten.
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