18 Februar 2021

Bubi und die Drahtschere

Aus der Serie »Dorfgeschichten«

Mein Freund Bubi gehörte in der Schule nicht zu den hellsten oder lernwilligsten Köpfen, aber ich hielt ihn für sehr schlau. Wenn er etwas sagte, glaubte ich ihm. Hatte er eine gute Idee, folgte ich ihm bereitwillig.

Wie schlau er war, wurde mir spätestens an dem Tag bewusst, an dem er mir erklärte, was das Wort »provisorisch« bedeutete. »Das kommt von Professor, und es sagt, dass etwas besonders gut ist«, sagte er mit viel Überzeugung. »Weil wenn etwas von einem Professor kommt, ist es immer besonders gut.«

Wir gingen in die erste Klasse, wir sprachen das Wort »provisorisch« eher »professorisch« aus. Ich brauchte Jahre, bis ich lernte, die Begriffe auseinanderzuhalten und korrekt zu benutzen. Aber Bubi hatte eben stets die besten Ideen.

So erzählte ich ihm an einem schönen Frühsommertag, während wir über die Wiesen von unserer Schule aus nach Hause gingen, von den Problemen, die wir mit einigen unserer Nachbarn hatten. Von den einen fühlte ich mich schikaniert – sie hatten nicht nur einmal einen Ball beschlagnahmt, der in ihren Garten gefallen war –, von den anderen wurde mir ständig mit Prügel gedroht.

Bubi grinste. »Ich habe eine Idee.« Er erklärte sie mir, und ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Wir gingen beide nach Hause, wo jeder von uns zu Mittag aß. Später trafen wir uns wieder, an einem Gebüsch zwischen dem Haus meiner Eltern und der Lehmgrube, in der wir oft spielten. Bubi präsentierte mir das, was er mitgebracht hatte: eine Drahtschere.

»Die habe ich bei meinem Vater ausgeliehen«, informierte er mich. »Der weiß nichts davon, und ich muss sie zurückbringen. Aber jetzt können wir sie benutzen.«

Sein Plan war einfach, und er basierte darauf, dass am frühen Nachmittag keine Erwachsenen auf der Straße waren. Die Männer waren allesamt in den Fabriken und Werkstätten, auf Baustellen oder auf dem Feld, die Frauen – wie das damals üblich war – entweder in der Küche beschäftigt oder gerade beim Einkaufen.

Bubi und ich betrieben klassische Arbeitsteilung: Ich kletterte über den Bretterzaun, der unser kleines Fußballfeld vom Garten der einen Familie trennte, und scheuchte dort die Hühner auf, die auf der trockenen Erde ihre Kreise zogen. Bubi machte sich währenddessen mit der Drahtschere am alten Maschendrahtzaun auf der anderen Seite des Gartens zu schaffen.

Beide waren wir erfolgreich. Wild gackernd und unter übertriebenem Flügelschlag flatterten die Hühner in alle Richtungen, einige davon auch in unsere Richtung. Das war nicht ungewöhnlich; die wenigen Autos, die durch unseren Weg kamen, wurden wegen der Hühner stets sehr langsam bewegt.

Eines der Hühner bugsierte ich in Richtung des Maschendrahtzauns, den Bubi auf einer Länge von vielleicht einem halben Meter aufgeschnitten und auseinandergezogen hatte. Gemeinsam scheuchten wir das Huhn so, dass es genau durch dieses Loch in den Garten des Nachbarn flatterte. Dort ließen wir es in Ruhe.

Feixend sahen wir zu, wie das Huhn anfing, die Samen aus einem Beet zu picken. Es scharrte mit den Füßen, es arbeitete mit dem Schnabel, und es war sicher nur eine Frage der Zeit, bis das Huhn das sorgsam geharkte Beet verwüstet haben würde. Dann zogen wir den Maschendrahtzaun vorsichtig zusammen, schön langsam, damit wir uns an dem rostigen Draht nicht die Finger aufschlitzten, und in einer Weise, damit nicht gleich auffallen würde, was wir getan hatten.

Während wir in unseren Garten hinunterliefen und ihn auf der anderen Seite verließen, um zur Lehmgrube zu eilen, verbissen wir uns das Lachen. Erst als wir in unserem Versteck saßen, umgeben von Gebüsch auf der einen und von einem Haufen zerborstener Steine auf der anderen Seite, lachten wir schallend und kamen aus dem Lachen fast nicht mehr heraus.

»Und jetzt?«, fragte ich irgendwann. Bubi hatte schließlich immer die besten Ideen, er wusste bestimmt weiter.

Er sah mich an. »Keine Ahnung. Das Huhn wird irgendwann aus dem Garten rauskommen, hoffe ich zumindest, und dann wird sich jeder fragen, was geschehen ist.«

Wir gingen in die Lehmgrube, versteckten uns dort weiter zwischen Büschen und Steinhaufen, sahen den Arbeitern zu, wie sie dort zu Werke gingen, beobachteten Frösche und Molche, kletterten einen Berg hinauf und spazierten durch den Wald – all die Dinge, die wir als Erstklässler eigentlich jeden Tag und mit ungebrochener Begeisterung taten. Am späten Nachmittag trennten wir uns, und jeder ging nach Hause.

Als ich daheim war, stellte ich fest, dass das Huhn nicht mehr im Garten das Nachbarn unterwegs war, dass dessen Beete aber gründlich verwüstet waren. Der Nachbar, ein vierschrötiger Mann mit Glatze und dickem Schnauzer, stand zwischen seinen Pflanzen und brüllte jemanden an, den nicht nicht sehen konnte.

Immerhin wurde nicht ich verdächtigt. So eine Tat traute mir niemand zu. Aber dafür musste man ja auch so schlau sein wie mein Freund Bubi.

2 Kommentare:

Christina hat gesagt…

Bei Geschichten wie dieser frage ich mich immer, ob Du Dich tatsächlich heute noch so detailliert daran erinnerst, oder ob Du das bereits schon mal aufgeschrieben hast, in einem Tagebuch oder so. Ich kann mich an meine Kindheit jedenfalls nicht so richtig intensiv erinnern, höchstens anhand von Fotos.

Enpunkt hat gesagt…

Es sind Geschichten, keine Tatsachenberichte. Ich erinnere mich an manche Szenen sehr gut, und darum baue ich die Geschichte.

Bubi gab es wirklich, die Drahtschere auch, das Huhn und den Zaun ebenfalls. Ich werde noch weitere Bubi-Geschichten schreiben, denke ich. Der Kerl war echt Punk. Zumindest für einen Erstklässler, dann zog seine Familie eh weg.