Ich weiß noch, wie die Katastrophe anfing. Und ich bin sicher, dass wir diesen Anfang als erste sahen. Vielleicht sind wir auch diejenigen, die keine Chance haben werden, dieser Katastrophe zu entkommen. Es kann nicht mehr lange gut gehen.
Dabei sah alles so harmlos aus.
Meine Tochter bemerkte die Veränderung als erste. »Die Marienkäfer sind so seltsam«, behauptete sie, als sie vom Spiel im Garten zurück kam. Ich saß auf der Veranda, ein Buch in der Hand und ein kühles Bier vor mir. Sie baute sich vor mir auf. »Du musst kommen und es dir ansehen.«
Hinter mir drang klassische Musik in dezenter Lautstärke ins Freie. Ich hatte wieder einmal Lust darauf gehabt, mir Debussys Etüden anzuhören. Sie passten, so fand ich, wunderbar zum angenehmen Wetter. Auf meine Tochter und ihre häufig sehr kindlichen Spielwünsche hatte ich eigentlich keine Lust.
Aber ich wollte in den »Papa ist toll«-Charts auf einem der vorderen Plätze landen und nicht in der Hitliste unbrauchbarer Väter verzeichnet werden. Also unterstückte ich den lautstarken Seufzer, der mir über die Lippen kommen wollte, legte mein Buch zur Seite und folgte meiner Tochter.
Sandra war ein aufgewecktes Kind. In ihren Gummistiefeln und mit den Zöpfen, die bei der jeder Bewegung wippten, wirkte sie jünger als sie war. Im nächsten Sommer sollte sie in die Schule kommen. Mir graute schon vor langweiligen Pädagogen, die es sicher bald schaffen würden, Sandra das auszutreiben, was mir manchmal auf die Nerven ging: ihre überschäumende Phantasie, ihre Freude an seltsamen Geschichten und irrwitzigen Bildern.
Als ich um die Ecke bog, zwei Schritte hinter meiner Tochter, blieb ich wie erstarrt stehen. Das war keine Phantasie, das waren keine Kleinmädchenträume: Vor mir sah ich einen Marienkäfer, aber nicht in der üblichen Größe, sondern gut einen Meter durchmessend. Eine schimmernde halbrunde Fläche in Rot, darauf die bekannten Punkte – ganz eindeutig ein Marienkäfer.
Ich reagierte schnell. Bevor Sandra auf das Tier zugehen und es vielleicht sogar streicheln konnte, sprang ich zu ihr, riss sie hoch, behielt sie im Arm und ging drei, vier Meter zurück. Dann holte ich tief Luft und betrachtete den Käfer.
Er wirkte völlig normal, sah man von der irrsinnigen Größe ab. Er fraß gerade in aller Gemütsruhe die Rosenstöcke ab, die in einem schönen Beet standen. Die einzelnen Blätter genügten ihm nicht, er vertilgte auch die dicken alten Strünke. Die Dornen machten ihm nichts aus. Das Geräusch des zersplitternden Holzes und das lautstarke Kauen klangen, als drohe sich der Weltuntergang an.
Ich bin mir heute nicht mehr sicher, ob wir die ersten waren, die auf die Marienkäfer aufmerksam wurden. Wir riefen die Polizei, dann die Presse an. Und noch während die ersten Polizisten mit wichtiger Miene unseren Garten zertrampelten, hörten wir die entsetzten Schreie unserer Nachbarn. Wie es sich herausstellte, war unsere gesamte Vorstadtsiedlung von den Marienkäfern betroffen.
Das alles war nur der Anfang. Die Polizei versuchte alles, um der Tiere Herr zu werden, und setzte irgendwann sogar Pistolen und noch später Gewehre ein. Mobile Einsatzkommandos gingen in unseren Gärten auf Käferjagd, Wasserwerfer rollten durch die Straßen, die Tanks mit leichter Säure gefüllt.
Doch es kamen immer mehr Marienkäfer. Und sie schienen größer zu werden. Während die Tiere nacheinander alle Büsche und Zierbäume in unserer Siedlung vertilgten, schwärmten die Wissenschaftler aus. Biologen und Chemiker, Physiker und Anatomen – sie alle bewiesen eindrucksvoll und durch zahlreiche Grafiken, dass die Käfer nicht so groß sein konnten. Sie würden an ihrem eigenen Gewicht ersticken, die Panzer und die Ernährung konnten nicht funktionieren.
Nach allen Regeln der Wissenschaft gab es die Tiere also nicht. Dummerweise hielten sich die Käfer nicht an die Erkenntnisse der Forscher. Sie durchmaßen mittlerweile im Schnitt eineinhalb Meter und spazierten nicht nur in den Gärten und auf den Straßen unserer Siedlung herum, sondern auch im nahegelegenen Wald. Baumstämme mochten sie nicht sonderlich, aber sie fraßen so lange an ihnen herum, bis die Stämme umkippten und die Käfer sich über das Laub und die feinen Zweige hermachen konnten.
Sie wurden größer, und sie wurden mehr. Die Polizei kapitulierte, das Militär rückte an. Salven aus Maschinengewehren zersiebten Hunderte von Käfern, Granaten zerrissen sie in unappetitlich aussehende Fetzen. Doch das hielt die Tiere nicht davon ab, zu wachsen und sich zu vermehren. So ging es weiter und weiter …
Hinter den Mauern unserer Häuser, die von den Käfern nicht gefressen wurden, sitzen meine Tochter Sandra und ich sowie Tausende anderer Menschen. Wir wissen nicht, ob die Marienkäfer auch Menschen fressen würden, aber ich will es nicht herausfinden. Wir sind organische Materialien, und bisher fraßen sich die Tiere durch so ziemlich alles hindurch. Ich möchte Sandra nicht einem Marienkäfer zum Fraß vorwerfen.
Ich schaffe es wahrscheinlich, bis zur Garage zu kommen, das Auto zu starten und zum Einkaufen zu fahren. Aber ob ich jemals wieder zurückkomme, weiß ich nicht. Wie es aussieht, sind wir dazu verurteilt, im Wohnzimmer zu sitzen und auf unser Ende zu warten.
Für Sandra ist das alles ein riesiger Spaß. Vorher kam sie aufgeregt zu mir gelaufen. »Papa!«, rief sie aufgeregt. »Die Käfer werden noch viel viel größer.«
Zuerst glaubte ich ihr nicht, doch seit einer Minute sehe ich die rote Rundung, die sich am Ende der Straße über die Häuser erhebt. Ich sehe einen dunklen Punkt, der sich auf der Rundung befindet.
»Sie werden immer größer«, murmle ich. Und dabei weiß ich nicht, ob das wirklich das Ende sein wird …
1 Kommentar:
Wobei Marienkäfer eigentlich keine Pflanzenfresser sind und hauptsächlich Läuse und Milben vertilgen oder sich kannibalisch ernähren. Das hätte die Spannung der Geschichte noch ein bisschen gesteigert. Entweder sie hätten Menschen oder sich gegenseitig gefressen. Zwinker!
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