19 Oktober 2020

Kleinstadtsirenen

Aus der Serie »Dorfgeschichten«


Träge saß ich auf der Parkbank und blickte ins Leere. Das Buch hielt ich noch in der Hand, aber ich war nicht in der Lage, mich auf die Buchstaben zu konzentrieren, nahm weder einzelne Wörter noch zusammenhängende Sätze wahr. An diesem heißen Sommertag im Sommer 1983 hatte ich das Gefühl, mein Gehirn löse sich langsam auf und werde zu einer Suppe, in der es nur noch Reste von Intelligenz gab.

Die wenigen Menschen, die im Park unterwegs waren, bewegten sich von Schatten zu Schatten, sofern das überhaupt ging. Vor allem Rentner oder Leute, die ich für Rentner hielt, eilten mit flottem Schritt durch die freien Stellen und legten an jedem schattigen Gestrüpp oder Baum eine Pause ein.

Ich sah einem Mann zu, der leicht gebückt ging. Mit der rechten Hand stützte er sich auf seinen Stock, der linke Arm fehlte. Seine Haare waren grau, die Schritte schwer. Ich nahm an, dass er einige Jahre älter war als mein Vater.

Als die Sirenen aufheulten, zuckte ich zusammen. Es war kein Alarm, zumindest ging ich davon aus. Wahrscheinlich wurden sie einfach wieder einmal getestet, wie jedes Jahr. Selbst wusste ich nie, welche Art von Alarm für welche Art von Katastrophe galt. Was war das Signal für Bombenalarm, was für einen Chemieunfall? Meine Mutter konnte die einzelnen Sirenenklänge gut auseinander halten, sie hatte es im Krieg gelernt.

Offensichtlich auch der alte Mann, der gerade vor mir auf dem Weg unterwegs war. Er zuckte zusammen, dann beugte er sich nach vorne, ging langsam in die Knie, blieb in einer kauernden Haltung auf dem Boden. Ich hörte ihn wimmern, und sein Wimmern drang durch das Jaulen der Sirenen.

Verwirrt starrte ich auf den alten Mann, bemerkte dann, dass ich schon aufgestanden war. Mit raschen Schritten überwand ich die Distanz zu ihm.

Ich beugte mich zu ihm hinunter. »Ist bei Ihnen alles in Ordnung, kann ich Ihnen helfen?«

Der Mann schluckte, als ob er sein Wimmern so beenden könnte. Seine Augen schwammen in Tränen. »Die Sirenen, der Flieger, es kommt alles hoch.« Er sah durch mich hindurch, und als er weitersprach, klang es, als würde er mit sich selbst reden. »Dieser verdammte Ami, dieser Drecks-Tiefflieger, die Sirenen haben geheult, und mein Bruder hat draußen auf dem Feld gespielt, hinter dem Haus, am Stadtrand, und der verdammte Ami hat ihn mit dem Maschinengewehr abgeknallt, einfach so. Und das kommt immer hoch, wenn die Sirenen heulen.«

Kurz überlegte ich, was ich machen sollte. Viel tun konnte ich in solchen Fällen nie, es war eigentlich immer alles falsch. Ich kannte es von meinen Eltern, wenn sie unvermittelt vom Krieg anfingen oder wenn mein Vater stundenlang im Keller stand, in der Dunkelheit, eine Bierflasche in der Hand, und leise mit sich selbst redete.

»Soll ich Ihnen aufhelfen?«, fragte ich.

»Nein, es geht schon«, gab er zurück. »Es muss ja immer irgendwie gehen.« Es sank zurück, bis er mit dem Hintern auf dem Boden saß. Blicklos starrte er in die Luft, dann zeigte er auf seinen Arm. »Der Scheißkrieg. Den Arm hat mir der Russe weggeschossen, Sommer 44 bei Orscha. Heiß war’s. Und dann hat mir der Ami den kleinen Bruder abgeknallt. Scheißkrieg.«

Ich nickte ihm zu und wies zu der Bank hinüber, wo noch mein Buch lag. Einige Passanten standen in der Nähe und sahen zu dem alten Mann und mir hinüber. »Ich bin dort, wenn Sie mich brauchen. Rufen Sie, oder geben Sie mir ein Zeichen.«

»Ist recht.« Er versuchte ein Lächeln, doch es verunglückte.

Langsam stand ich auf und nickte ihm zu. Die Sirenen hatten mittlerweile aufgehört. Vögel zwitscherten, Insekten summten über einem Strauch mit blühenden Rosen.

Der alte Mann saß immer noch auf dem Boden. »Ich kann meinen linken Arm wieder spüren«, sagte er unvermittelt. »Heute nacht wird’s regnen.«

Dann stand er auf, wünschte mir murmelnd einen »schönen Tag«, nahm seinen Stock und ging weiter. Mit meinem Science-Fiction-Roman konnte ich mich an diesem Nachmittag dann auch nicht mehr anfreunden.

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