20 April 2020

Im Regen auf der Weide

Aus der Serie »Dorfgeschichten«

Die Stimme meines Vaters drang durch die Treppe hoch in mein Zimmer. »Klaus, der Kurt braucht dich!«

Ich schreckte hoch. Eigentlich war ich gerade in die Lektüre eines Science-Fiction-Heftromans vertieft. Und eigentlich wäre ich lieber mit einem Mausbiber zusammen durch die ferne Galaxis Andromeda gereist, als den Roman loszulassen. Aber wenn man mich brauchte, hatte ich zu reagieren, das war sicher.

Rasch eilte ich die Treppe hinunter. Mein Vater hielt mir meine Regenjacke entgegen und informierte mich. »Der Kurt braucht dich auf der Weide, er ist schon den Viehweg hoch. Du musst schnell machen, eine Kuh kalbt.«

Ich verstand. Schnell zog ich mir Stiefel und Regenjacke an, dann rannte ich los. Hinter unserem Haus verlief ein Viehweg. Dort gingen jeden Morgen die Rinder entlang, hoch zu einer großen Viehweide, die sich zwischen dem Rand des Dorfes und dem Wals erstreckte. Abends kamen sie von dort wieder herunter, vollgefressen und mit dicken Eutern, sehnsüchtig danach, gemolken zu werden. Die Rinder gehörten zu unserem Leben wie der Wald, der sich überall um das Dorf erstreckte.

An unserer Gartentür duckte ich mich unter dem Viehzaun, weil ich keine Lust hatte, einen Stromschlag zu erhalten, dann rannte ich weiter. Meine Stiefel patschten durch Schlamm und Regen. Aus einem grauen Himmel fiel ununterbrochen das Wasser auf mich herunter, ich sah höchstens hundert Meter weit.

Ich erreichte Kurt auf der Weide. Er stand neben einer Kuh, einen breiten Hut auf dem Kopf, einen Poncho über den massigen Körper gezogen, und streichelte das Tier. Aber er sah aus, als hätte er beste Laune.

Durch den Regen hindurch strahlte er mir entgegen. »Guck mal, ein Kälbchen«, sagte er.

Erst da sah ich das Tier. Hinter der Kuh stand ein Kalb, noch zittrig auf den Beinen und voller Schleim, aber schon selbständig genug, die ersten tapsigen Schritte zu gehen. Die Kuh schien zu verstehen, dass weder der Bauer noch ich ihr und ihrem Kleinen etwas tun wollten. Sie drehte den Kopf ab und leckte mit ihrer langen Zunge über den Rücken des Kalbs. Beiden Tieren schien der strömende Regen nichts auszumachen.

»Du bleibst hier«, sagte der Bauer in dem groben Dorfdialekt, den wir untereinander sprachen. »Pass auf die beiden auf. Ich lauf runter und komm mit dem Traktor zurück. Dann fahre ich die beiden.«

Es war keine Diskussion, kein Frage-und-Antwort-Spiel, sondern eine klare Anweisung. Ich nickte nur. Ich mochte mich bei irgendwelchen Science-Fiction-Romanen auskennen, sicher aber nicht bei Kühen und Kälbern.

Der Bauer verschwand im Regen, ich blieb bei den Tieren. Langsam wurde ich nass. Ich streichelte den Kopf der Kuh, die langsam Vertrauen zu mir fasste, dann streichelte ich auch das Kalb.

Es war eine eigentümliche halbe Stunde in diesem Sommer 1978. Als Kurt irgendwann mit dem Anhänger kam und wir die Kuh und das Kalb darin verstauen konnten, fühlte ich mich richtig gut. Das war dann doch etwas anderes als Science Fiction.

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