15 Januar 2014

Erschütternde Charakterstudie

Ein Mann ist unschuldig, wird aber wegen seiner Unschuld zum Schuldigen: So lässt sich vielleicht am besten der Roman »Bellas Tod« von Georges Simenon zusammenfassen. Der französische Schriftsteller, von dem ich vor allem die »Maigret«-Krimis kenne, schrieb »Bellas Tod« in den frühen fünfziger Jahren, als er in den USA lebte – der Roman spielt in einer amerikanischen Kleinstadt im Nordosten des Landes.

Hauptfigur des Romans ist Spencer Ashby, ein eher spießiger und vor allem sehr pflichtbewusster Lehrer, der mit seiner Frau Christine ein gemütliches und zurückgezogenes Leben führt. Ein Zimmer haben sie an Bella vermietet, die Tochter einer alten Freundin von Christine. Als eines Morgens das Mädchen erdrosselt in seinem Zimmer aufgefunden wird, verändert sich das Leben des Paares.

Recht schnell wird klar, dass Spencer Ashby zwar nicht das geringste Motiv hätte, Bella zu ermorden, dass er aber als einziger Mensch über kein Alibi verfügt und die beste Gelegenheit gehabt hätte: Seine Frau war unterwegs, er hielt sich in seiner »Bude« auf, dem Bastelraum im Keller. Die Polizei ermittelt langsam und gründlich, und die dauernden Fragen wühlen sich tief in Spencers Psyche.

Simenon schildert in fast schon grausamer Art und Weise die Veränderung seiner Hauptfigur: Der Lehrer erfährt, dass sein Hausgast mit mehreren jungen Männern verkehrt hatte, und bekommt durch die Tote sein tristes Leben gespiegelt.

Auf einmal wachsen die Verlockungen in ihm, während gleichzeitig der Druck der Öffentlichkeit auf ihn wächst. Vom Schuldienst wird er beurlaubt, jemand schmiert ein »M« für »Mörder« an das Haus, in der Kirche und in der Post fühlt er sich ausgeschlossen.

Sind die »Maigret«-Krimis vor allem dadurch geprägt, dass ein Kommissar immer tiefer im Sumpf des Verbrechens wühlt und irgendwann den Schuldigen fasst, ist »Bellas Tod« von einem anderen Kaliber. Der Roman ist ein Krimi der anderen Art, geschildert aus der Sicht eines Mannes, den irgendwann jeder für einen Mörder hält – wie Simenon das macht, ist beeindruckend und klarsichtig.

Er seziert das Innenleben seiner Hauptfigur, leuchtet den Lehrer und seine Vorlieben sowie sein gesamtes Umfeld aus. Und er überrascht mit einem Ende, das ich so nicht erwartet hätte. Das ist klasse gemacht, und weil Simenon wieder einmal beim Umfang seines Romans unter 200 Seiten bleibt, doppelt überzeugend; heutige Autoren würden einen 600-Seiten-Wälzer aus dem Thema machen.

Ich habe die schöne Diogenes-Ausgabe gelesen, die ich jedem ans Herz legen will. Wer bisher noch keinen Simenon-Roman gelesen hat, erhält mit »Bellas Tod« einen packenden Einstieg.

1 Kommentar:

Frank Böhmert hat gesagt…

heutige Autoren würden einen 600-Seiten-Wälzer aus dem Thema machen.

Und darum lese ich wenig heutige Autoren, sondern lieber Simenon und Greene und wie die kurzen, schnellen Klassiker alle heißen!