(Dieser Beitrag erschien in der Ausgabe 154 des OX-Fanzines und wird an dieser Stelle mit gebührendem Zeitabstand »nur« dokumentiert.)
Die Frage stand in einer der Mails, die ich im Herbst 2020 erhielt. Gestellt wurde sie von einem Punkrock-Kumpel aus Baden-Württemberg, den ich seit den 80er-Jahre kannte: »Wird Punk eigentlich die Corona-Zeit überstehen? Muss unsere Pogo-Kultur vielleicht sterben?«
Ich stutzte zuerst, als ich das las. Pogo und Kultur in einem Satz? War das jetzt übertrieben?
Mit dem bewussten Kumpel war ich schon durch manches Pogo-Konzert gehüpft. Wir hatten besoffen irgendwelche Stakkato-Sätze mitgebrüllt, hatten mit Bier gespritzt oder waren, vom eigenen Schwung getragen, irgendwann am Rand der Pogo-Fläche gestolpert und auch mal auf dem Boden gelegen. Was hatte das mit Kultur zu tun?
Ich bin keine 17 Jahre alt, auch keine 27 mehr. Gehe ich nach meinem Personalausweis und nach der Optik, bin ich 57 Jahre alt. Das ist das Alter, in dem man sich für Hochkultur zu interessieren hat, für klassische Musik und Opern, für Gemäldegalerien und anspruchsvolle Literatur. Ich kann mir heute tatsächlich klassische Musik oder Jazz anhören, ohne brechen zu müssen – im Alter wird man wirklich ruhiger.
Aber verdammt noch mal: Wenn irgendwo eine großartige Punkrock- oder Hardcore-Band spielt, dann schreie und hüpfe ich immer noch. Vielleicht nicht mehr vom ersten Ton an, das überlasse ich gern den Jüngeren, aber irgendwann packt mich halt doch »der Veitstanz«, wie es meine immer charmante Mutter vor Jahrzehnten nannte. Das ist sehr wohl Kultur.
Es ist eine Anti-Kultur, meinetwegen. Oder es ist eine Kultur unter anderen Vorzeichen, andere Leute würden es Alternativkultur nennen. Aber es ist »unsere« Kultur, wer immer auch »uns« sein mag.
Vielleicht sind es nur einige hundert oder tausend Leute in Deutschland, vielleicht nur einige zehn- oder hunderttausend Menschen weltweit. Es ist, wenn man den harten Kern betrachtet, eine kleine Szene – und ich fühle mich nach all den Jahren in dieser Szene immer noch wohl. Es ist eine Szene mit ihrer eigenen Kultur.
Und diese Kultur ist durch Corona und seine Folgen massiv bedroht.
Punk und Hardcore kann man sich daheim anhören, beim Autofahren, beim Joggen im Park. Weil Musik ständig verfügbar ist, macht es keinen großen Unterschied, wo ich welches Stück höre. Man kann sich darüber streiten, ob MP3-Dateien besser oder schlechter sind als Vinylscheiben – aber das ist Detailhuberei. Denn Musikhören allein macht keine Szene aus.
Wenn man dazu neigt, die Punk-Hardcore-Szene zu romantisieren, wie ich das gelegentlich mache, wird klar, dass es zwar um Musik geht, aber ebenso um ein Lebensgefühl. Das hat heutzutage nicht mehr so viel mit Selbstzerstörung zu tun wie in den 80er-Jahren, aber doch mit einem Widerspruch, den man Außenstehenden kaum erklären kann: Als Punkrocker stellt man sich in einer gewissen Phase seines Lebens bewusst außerhalb der Gesellschaft, manifestiert das durch Optik in verschiedenster Form und verhält sich unangepasst, schätzt es aber, die Gesellschaft von anderen zu suchen.
Klassisches Muster einer Jugendkultur: Man schließt sich nach innen zusammen und schirmt sich nach außen ab. Dass das einige Leute jenseits der fünfzig wie ich immer noch machen, können Außenstehende gern belächeln. Denn das ist letztlich das, was die Pogo-Kultur ist: eine Subkultur mit eigenen Regeln und Gesetzen, die unausgesprochen sind, aber seit langem gelten.
Innerhalb der Szene ist es egal, was jemand »im wirklichen Leben« macht: ob sie bei einem Autohersteller arbeitet oder er sich als Freiberufler durchschlägt, ob er arbeitslos ist oder sie auf einem Job als Beamtin gelandet ist. Entscheidend ist, wie man sich innerhalb der Szene verhält. Und die Szene ist eine, die nicht in den heimischen vier Wänden verortet wird, wo man sich in gepflegter Atmosphäre die Vinylscheiben anhört.
Punk findet, um es klar zu sagen, auf der Straße statt und im Konzertraum. Zu Punk zählen Konzerte, bei denen es laut und heftig zugeht, und dazu gehört ebenfalls, dass man sich auf der Straße herumtreibt und nicht nur brav auf dem Sofa sitzt, um sich Musik reinzuziehen. Ein Punk-Konzert hat laut zu sein, mit viel Energie und mit einem »Wumms«, der einem hilft, hinterher mit den Widrigkeiten des Alltags besser klar zu sein, vielleicht deshalb, weil man neuen Mut geschöpft oder neuen Hass getankt hat.
All das ist in diesen Monaten nicht möglich. Ich will gar nicht von den wirtschaftlichen Konsequenzen für viele Menschen sprechen. Die zahlreichen Leute, die rings um ein Konzert gebraucht werden, ob für die Musik, für den Ton oder das Licht, für das Catering und den Eintritt und irgendwann sogar fürs Aufräumen – sie alle stecken in existenziellen Nöten, die sich von Monat zu Monat zuspitzen.
Wie es mit ihnen weitergeht, wenn die Pandemie irgendwann überwunden sein wird, weiß bislang keiner. Man kann davon ausgehen, dass nicht alle Kleinunternehmen durchkommen werden – eine Tragödie für viele kreative Leute, die dazu beitragen, dass eine Szene wie die unsere überhaupt existieren kann. Bis sich diese Menschen davon erholt haben, wird viel Zeit kosten, und bis sich die Szene davon erholen wird, womöglich auch.
Letztlich gehört alles zusammen: eine nach wie vor widerständige Szene mit ihren Bands und den Leuten, die dafür sorgen, dass alles funktioniert. All das ist in der Corona-Krise massiv bedroht, nicht nur für die Dauer eines Lockdowns, sondern darüber hinaus. Es glaubt sicher niemand daran, dass wir im Frühjahr 2021 schlagartig zur Zeit vor der Krise zurückkehren werden.
Wie hat man sich das denn vorzustellen? Werden vor Betreten eines Punk-Konzertes die Impfausweise kontrolliert? Dürfen nur die Leute nach vorne, die eine Impfung nachweisen können? Müssen die anderen mit Maske und Sicherheitsabstand irgendwo separat stehen? Sind Pogo, Slamdance oder gar Stagediving völlig undenkbar – für das Jahr 2021 und für alle Zeiten?
Die Zukunftsaussichten sind unklar, niemand weiß etwas, das man als konkrete Prophezeiung benutzen könnte. Durchhalteparolen helfen nicht weiter. Ob unsere Pogo-Kultur das alles übersteht, weiß ebensowenig ein Mensch. »Unbeschadet« sicher nicht. Es werden Veranstalter aufgeben, Clubs schließen, Firmen in die Pleite rutschen, Bands ihre Proberäume verlieren.
Was uns bleibt, ist die Solidarität, so klischeehaft das klingen mag.
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