29 Januar 2021

Das tanzende Mädchen

An diesem Morgen fühlte ich mich träge. Dabei hatte ich gut geschlafen. Aber vielleicht war mein Kopf noch so voller neuer Eindrücke und der Bauch noch voll mit leckerem Essen und guten Weinen. Ich saß im Frühstückssaal des Château de Beaulieu, trank meinen Kaffee und aß sehr gemütlich mein Croissant.

Es war ein wunderbarer Morgen, ein leichter Wind bewegte die Vorhänge, die den Blick durch die großen Fenster in den Park verbargen. Die Temperaturen waren angenehm, es hatte in der Nacht leicht geregnet, kurz vor der Morgendämmerung, als die Gegend in tiefem Schlummer gelegen war.

Die Atmosphäre in dem Frühstückssal wäre mit »gedämpft« gut umschrieben gewesen. Alles wirkte alt: die Bilder an den Wänden, die Tische und Stühle, die anderen Möbel, die schweren Tischdecken und das Geschirr. Man merkte, dass man in diesem Schlosshotel auf Stil und Geschichte sehr großen Wert legte.

An den Tischen saßen einzelne Paare oder kleine Familien. Man unterhielt sich ruhig, niemand machte Lärm. Das Personal brachte sehr leise den Kaffee, und wer sich etwas zu essen oder zu trinken holte, machte das ebenfalls so ruhig wie möglich. Meine Frau und ich unterhielten uns nur in kurzen Sätzen, als ob wir das Gebäude aus einem tiefen Schlummer aufschrecken könnten.

Dabei war das Schlosshotel – wir hatten das Zimmer im Internet zu einem sehr niedrigen Preis buchen können – gar nicht so altmodisch. Das Abendessen auf der großen Veranda war wunderbar gewesen: ein stilvoller Rahmen, ein mehrgängiges Menü mit tollen Weinen aus dem Loire-Tal. Das Zimmer war schön, der kleine Park rings um das Château entsprach allen Klischees, die man sich von einer solchen Örtlichkeit versprach.

Wir besprachen die Ziele des Tages. Nachdem wir uns am Vortag Tours angeschaut hatten – unser Schlosshotel war keine drei Kilometer davon entfernt –, wollten wir an diesem Tag unter anderem nach Chinon fahren, um dort die alte Stadt anzuschauen und den leckeren Rotwein zu probieren.

Wenn wir es zeitlich einrichten konnten, standen noch die Gärten des Château de Villandry auf unserem Programm. Aber zuerst hieß es, ruhig zu sein und das Frühstück in der offenbar gebotenen Gelassenheit zu genießen.

Ein Mädchen, vielleicht acht Jahre alt, schien das aber anders zu sehen. Auf einmal stand es von dem Tisch auf, wo es mit seinen Eltern gesessen hatte, und fing an, durch den Raum zu tanzen.

Das Mädchen hatte lange blonde Haare, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, und es trug ein helles Kleid. Es hüpfte singend durch den Raum, die Luft geriet in Bewegung, auf einmal stieg auch die Lautstärke der Gespräche an. Die Eltern versuchten das Kind zu beruhigen, aber es hörte nicht auf sie. Es tanzte zwischen den Tischen hindurch, es sang laut und falsch, es hüpfte, machte Pirouetten, und es hörte nicht auf.

Einige ältere Paare schienen das nicht so gut zu finden. Ich sau kritische Mienen und sauertöpfische Gesichtsausdrücke. Jüngere Paare, zu denen ich uns an diesem Frühstücksmorgen zählte, reagierten anders; auf einmal wurde gelächelt und gelacht. Das Geschirr klapperte, Messer und Löffel wurden laut auf die Teller gelegt.

Das Mädchen hatte die Atmosphäre im Raum verändert. Das Essen war weiterhin lecker, die Räumlichkeiten änderten sich nicht, aber die Stimmung war belebt, ja, fröhlich.

Als wir irgendwann aufstanden und den Frühstücksraum verließen, tanzte das Mädchen längst nicht mehr. Es war mit seinen zornigen Eltern gegangen. Aber wir lächelten den anderen Gästen zu, während wir durch den Raum gingen, und die anderen lächelten zurück.

1 Kommentar:

Enpunkt hat gesagt…

Wer mehr über das Chateau de Beaulieu wissen möchte, das sich in der Nähe von Tours befindet, kann sich ja auf der Internet-Seite informieren. Hier:

https://www.chateaudebeaulieu37.com/fr/