Aus der Serie »Dorfgeschichten«
Meine Freundin Beate wohnte nur einige Häuser von meinem Elternhaus entfernt. Ihre Eltern waren erst kürzlich zugezogen, und wir mochten uns sehr. Die Erwachsenen machten ihre Witze über uns, weil wir manchmal Händchen hielten. Und wenn wir gemeinsam in den Kindergarten gingen, verloren wir sehr oft die Zeit aus den Augen.
An einem schönen Sommertag schloss der Kindergarten hinter uns, und wir standen auf der schmalen Dorfstraße.. Beate hatte eine tolle Idee: »Wir besuchen meine Schwester.« Ihre große Schwester ging schon in die Schule, in die zweite Klasse, während wir seit einigen Wochen zu den »Großen« im Kindergarten zählten.
Also gingen wir nicht nach Hause, wie das üblich war, sondern schlugen die komplett andere Richtung ein. Gemeinsam spazierten wir quer durch das Dorf und über die Wiesen, überquerten den Bach und kamen so zur Schule, die auf dem anderen Hügel des Dorfes stand. Dort standen wir verwirrt herum, weil wir nicht so richtig wussten, wie es weitergehen sollte.
Die Frau des Hausmeisters, die ich von der Kirchengemeinde her kannte, putzte gerade die Fenster im Erdgeschoss und erkannte mich. »Was wollt ihr denn hier?«, rief sie uns entgegen. »Ihr seid hier doch falsch!«
Ich war verwirrt, Beate reagierte schnell. Wir wollten ihre Schwester besuchen, rief sie zurück. Die Frau des Hausmeisters schüttelte den Kopf. Die sei nachmittags nicht mehr in der Schule, Zweitklässler hätten doch nur vormittags Unterricht. Wir sollten schnell heimgehen.
Wir waren nun richtig verwirrt. Ich hatte mich auf Beates Schwester gefreut, die ich witzig fand, und Beate hatte sich darauf gefreut, mir die Schule zu zeigen. Immerhin würden wir sie im nächsten Jahr ebenfalls besuchen.
Weil uns die Frau des Hausmeisters kritisch beäugte, gingen wir einige Meter zur Seite. Dann standen wir auf dem geteerten Feldweg, der von der Schule weg und in Richtung Wald führte. Davor gab es ein kleines Waldstück, in dem ich schon mit meinen Eltern war und das wir allgemein das »Krabbewälle« nannten, das »Rabenwäldchen« also.
Wir spazierten zu diesem Waldstück, sahen dort einige Zeit den Eichhörnchen zu, folgten dann einem weiteren Feldweg, der ebenfalls nicht zur Schule zurückführte, sondern noch weiter vom Dorf weg. Am Ende folgten verschiedenen Wegen und schlugen so einen großen Bogen entlang des Waldrandes um das Dorf herum.
Nach einiger Zeit, die für uns wie im Flug verging, kamen »von hinten« in das Dorf zurück. Irgendwann waren wir wieder auf vertrauten Wegen unterwegs, zwei fünfjährige Kinder, die Hand in Hand durch die Gegend spazierten, als sei ihnen die ganze Welt gleichgültig.
Auf der Höhe des Rathauses, in Sichtweite der alten Schule, stoppte auf einmal ein weißer Lieferwagen neben uns. Am Steuer saß Beates Vater. »Wo kommt ihr denn her?«, schnauzte er uns in einer Mischung aus Zorn und Freude an. »Wir haben euch überall gesucht.«
Wie sich herausstellte, waren unsere Eltern in heller Aufregung. Beates Vater und ihre Mutter – die Familie besaß zwei Autos – durchstreiften ebenso wie mein Vater mit seinem VW Käfer das Dorf und die Umgebung, während meine Mutter am Telefon saß und auf Anrufe hoffte. Wir hatten um 16 Uhr den Kindergarten verlassen und kamen nach 18 Uhr ins Dorf zurück, in bester Laune und mit einem großen Hunger.
Ich bekam daheim den Hintern versohlt, zumindest ein bisschen; wie es Beate erging, erfuhr ich nicht. Ihre Eltern und die zwei Mädchen zogen auch bald wieder weg, und ich sah sie nie wieder. Unseren Spaziergang zwischen Wald und Dorf vergaß ich allerdings nie.
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