22 Mai 2006

Heikles Thema packend geschildert, aber ...


Ich gestehe, daß ich mich lange vor einer Besprechung dieses Buches gedrückt habe: »Evil« von Jack Ketchum ist dazu geeignet, im Leser Alpträume hervorzurufen. Ich las das Buch während der langen Busfahrt von Monterey nach San Francisco, und ich mußte es mehrmals weglegen, weil es mir zu derb war – und nachts träumte ich tatsächlich davon.

Und es ist kein Horror-Roman, obwohl es in der Reihe »Heyne Hardcore« erscheint und mit einem Vorwort von Stephen King versehen wurde. Zumindest kein Horror-Roman mit übernatürlichen Elementen. »Evil« ist ein Roman über den Schrecken in einer normalen amerikanischen Vorort-Siedlung der fünfziger Jahren, über einen Schrecken, der sich genausogut in einer deutschen Siedlung abspielen könnte und von dem man hofft, daß es ihn in Wirklichkeit nie gibt.

Das Buch ist verstörend. Es geht um Kinder, die sich verändern; es behandelt das Thema, wie Brutalität abstumpft und wie man ein Verhältnis zu einem Menschen bekommt, den man nur noch als Opfer wahrnimmt. Es schildert genau, wie der junge Held sich verändert, wie er beobachtet und nicht eingreift, wie er das grausame Schicksal eines jungen Mädchens ansieht, ohne etwas dagegen zu tun, obwohl er genau weiß, was geschieht.

Der Originaltitel »The Girl Next Door« passt meiner Ansicht nach wesentlich stärker zu dem geschilderten Schrecken als der zwar knallige, aber zu plumpe deutsche Titel »Evil«. In solchen Fällen verstehe ich den Verlag nicht so recht.
Ich habe mir lange überlegt, ob man so ein Buch überhaupt empfehlen kann. Wenn es die falschen Leute lesen, könnten sie es falsch verstehen. Sie könnten sich – wenn es harmlose Jugendliche sind – zu sehr erschrecken, oder sie könnten sich an der geschilderten Brutalität geradezu aufgeilen.

Allerdings: Die Beschreibungen sind nie voyeuristisch, sie sind nicht so geschildert, daß sie dem Leser Freude bereiten, sondern ihn verunsichern. Man fragt sich unwillkürlich, welche Rolle man denn selbst im geschilderten Geschehen gespielt hätte.

Ohne jetzt viel mehr über das Buch und seinen Inhalt zu verraten, sei es noch kurz für den Stil gelobt. Kurze knappe Dialoge und treffende Beschreibungen packen einen, lassen einen durch die Seiten jagen. Andere Autoren wie Stephen King hätten daraus einen doppelt so dicken Wälzer gemacht.

Ebenjener Stephen King hat übrigens ein Vorwort zu diesem Buch geschrieben. Es nimmt leider viel zu viel voraus, und man hätte es als Nachwort bringen sollen. So weiß man als Leser eindeutig zu viel – ich empfehle jedem Interessenten, das Vorwort erst hinterher zu lesen, um sich so den Spannung, den Ekel und das Entsetzen nicht nehmen zu lassen.

Ein erschreckendes Buch, ein mutiges Buch zugleich. Ich bin nach wie vor beeindruckt.

Jack Ketchum: Evil
335 Seiten / Taschenbuch
Heyne Hardcore 67502

4 Kommentare:

Enpunkt hat gesagt…

Interessante Reaktionen des Publikums gibt es auf der Seite des Internet-Anbieters Amazon. (Wer sie lesen mag, gibt einfach den Namen des Autors und den Buchtitel an, um sich dann durchzuklicken ...) Ein Beleg dafür, dass nicht jeder ein solches Buch lesen sollte ...

Dafür hat die Homepage des SF-Radios den Roman sehr gut und auch sehr positiv besprochen. Das hat mich dann wieder einigermaßen mit den Qualitäten des deutschen Lese-Publikums versöhnt ...

Hier«
könnt Ihr das nachlesen:

Anonym hat gesagt…

Dein Link geht leider ins Leere.

Das von dir gesuchte Dokument wurde leider nicht auf www.sf-radio.net gefunden.

Die haben wohl kalte Füße bekommen!? Lesen eventuell zuviele Leute deinene BLog?

Anonym hat gesagt…

Hab das Buch vor Jahren im Original gelesen und es ist eines der wenigen "Horror" Bücher das mir Angst gemacht hat.

Das Buch ist für mich vor allem wegen der "Privatsache" Mentalität Angsteinflössend die man auch heute noch oft findet.
Gewalt gegen Kinder aber auch gegen Frauen ist noch immer weit verbreitet und wird oft ignoriert, sogar vom Staat(im Buch die Polizei).
Deutschland und Österreich sind auch keine Musterländer da muss man nur an Dinge wie "Vergewaltigung in der Ehe" denken...

Amazon Rezensionen....

Das scheint es ein paar Rosa-Brillenträger erwischt zu haben.

Das Buch basiert teilweise auf diese Person.
http://en.wikipedia.org/wiki/Sylvia_Likens

Enpunkt hat gesagt…

Hart.

Ich habe eben den Wikipedia-Eintrag gelesen. In nüchternen, trockenen Worten klingt das fast noch schlimmer als im Buch.

Brrr.