21 Februar 2006

Wie die Revolution begann

Das Fanzine PANKERKNACKER gehört – ohne Schmarrn – zu den richtig guten Heften in dieser Republik. Umso schlimmer, daß die vorliegende Ausgabe elf die letzte sein soll. Das ist ein Grund zum Heulen.

Ich habe das Heft noch nicht mal komplett gelesen, was mir einigermaßen peinlich ist. Wird nachgeholt, versprochen!

Aber von mir ist tatsächlich eine Geschichte drin. Sie heißt »Die Revolution startet vor dem Hotel Post« und ist so eine halb autobiografische Geschichte. Einige Elemente stimmen also, der Rest ist frei erfunden.

Leider wurde die Geschichte ohne Absätze veröffentlicht. Damit kann sie nur unter größten Mühen gelesen werden. Deshalb dokumentiere ich sie hier im Kommentar, damit Ihr sie selbst nachlesen könnt.

Viel Spaß damit!

1 Kommentar:

Enpunkt hat gesagt…

Die Revolution startet vor dem Hotel Post

»An einem der wenigen warmen Tage im Frühjahr 1983, kurz bevor Helmut Kohl endgültig zum Bundeskanzler gewählt wurde, plante ich mit Maurice, dem führenden Intellektuellen unserer Stadt, die Revolution. Mein Iro war frisch gefärbt, auf meiner Lederjacke glänzten neue Sprüche in weißem Lack, und ich trank das siebzehnte Weizenbier ...«

So müßte diese Geschichte beginnen, so wäre es klasse, so käme sie garantiert in eine popkul-turelle Anthologie, in der Männer anfangs der vierzig damit beginnen, ihre Jugend zu beschö-nigen und nachträglich alle Taten zu revolutionieren. Leider klappt das bei mir nicht so gut, da es viel zu viel schriftlichen Kram von mir und über mich gibt – also bleibt es dabei, daß ich meine Jugend so weit in ein verklärtes Licht rücke, wie es angesichts der verstrichenen Jahre auch nachvollziehbar ist.

Die Wahrheit ist einfacher, und sie hat viel mit Maurice, mit Helmut Kohl und der beginnenden Revolution zu tun. Nur trug ich weder Iro noch Lederjacke, und Weizenbier gab es ebenfalls keines.

Dieses Bier war 1983 in Freudenstadt noch extrem unüblich, man war in dieser Zeit noch schwer traditionell, auch in sogenannten subkulturellen Kreisen. Man bestellte sich, wenn man ein echter Kerl sein wollte, »a Halbe«, also einen halben Liter Export, üblicherweise Alpirsbacher Klosterbräu, wechselweise »Rosen-Bier«, auch »Rosenplotz« genannt, oder »Schwanen« – sowohl die übel am Marktplatz herumstinkende Brauerei mit dem blümeranten Namen als auch die Brauerei mit dem Tiernamen gibt es längst nicht mehr –, die meist schlecht eingeschenkt wurden und rasch getrunken werden mußten, damit sie nicht abstanden.

Und an einem sonnigen Nachmittag im Frühjahr reichten mir da schon zwei Bier, um einen sitzen zu haben. Wieviel Maurice schon intus hatte, wußte ich nicht. Aber deutlich mehr als ich, genug, um einen fiesen Mundgeruch zu haben und fleißig durch die Gegend zu spucken, während er sprach.

Maurice war eine Nummer für sich: Schätzungsweise anfangs dreißig und Sohn wohlhabender Eltern, hieß er in Wirklichkeit Moritz, fand aber, daß sich »Maurice« revolutionärer anhörte. Deshalb trug er lange Haare, einen verfilzten Vollbart und stets eine Baskenmütze, um wie ein französischer Film-Revoluzzer auszusehen. Ich mochte ihn, weil er ab und zu ein Bier ausgab und weil er einer der wenigen Erwachsenen war, die mit mir redeten.

»Wenn Helmut Kohl an die Regierung kommt, wird dieses Land brennen!« schrie er. Ich wandte mich ein wenig ab, um aus der Reichweite der Wasserspritzer zu kommen, aber es nützte nichts. Er rückte näher und schrie lauter. »Das gibt einen Aufstand, da werden die in Bonn erzittern!« mundgeruchte er mich voll.

Resignierend hielt ich die Hand übers Bier und atmete möglichst flach durch den nur leicht geöffneten Mund; so bekam ich nicht gar so viel ab. Es war beängstigend, wieviel Wut und Haß, wieviel Gestank und Feuchtigkeit einem so kleinen Mann mit einem so rundlichen Bauch entströmen konnte. Ich nahm an, daß er sich seinen Weg bis zu den Barrikaden in der vorläufigen Bundeshauptstadt einfach freistinken oder mit Hilfe von Bier freisaufen konnte; zumindest sah es im Augenblick genau danach aus.

»Was willst du denn machen, Maurice?« wagte ich einen vorsichtigen Einwand, während ich auf der Mauer saß und meinen Rücken im modisch-bunten Hemd von der Frühlingssonne bestrahlen ließ.

Die letzten Schneeberge gammelten vor der Hotel-Veranda vor sich hin, und auf der Stuttgarter Straße standen schon wieder die Autos, ein VW Käfer und ein Kadett nach dem anderen, dazwischen gelegentlich ein Mercedes oder ein größerer Opel. Die laufenden Motoren röchel-ten im Chor und schickten schmierige Rauchwolken in die Luft, der süßliche Gestank drang bis auf die Veranda, wo neben Maurice und mir eine bunte Mischung aus Jugendlichen, jung gebliebenen Erwachsenen und einigen eher verunsichert wirkenden Kurgästen saß. Man konnte es aushalten vor dem Hotel Post.

»Das ist geheim!« sagte Maurice deutlich leiser. »Aber du kannst davon ausgehen, daß wir viele Aktionen geplant haben. Nach diesen Aktionen wird der Landkreis anders aussehen als vorher. Ach was, der ganze Landkreis, der ganze Schwarzwald wird sich verändern, das wird bis nach Bonn durchgehen, und die werden sich hüten, so was noch einmal zu machen.« Er holte tief Luft. »Diese Faschisten!« schrie er, den Kopf in die Luft gereckt.

Fasziniert sah ich zu, wie die feinen Speicheltropfen im Schein der Sonnenstrahlen einen kleinen Lichterglanz formten, bevor sie sich in der Höhe auflösten. Auch die anderen Leute am Tisch schwiegen, schauten teils respektvoll, teils besoffen auf ihre Biergläser hinunter. Es war ein gemütlicher Tag vor dem Hotel Post.

Nur essen wollte ich dort niemals etwas. Davon hatte mir mein Vater schon vor Jahren abgeraten. »Ich hab' da mal gearbeitet«, hatte mir der Elektriker erzählt, als der mein Herr Papa auf allen Baustellen im Landkreis schon geschuftet hatte, »und in der Küche sah's aus, daß es der Sau graust.« Und so würde ich nie etwas im Hotel Post essen.

Wobei das Hotel ohnehin schon bessere Zeiten gesehen hatte, ebenso wie das Kino nebenan, die sogenannten Post-Lichtspiele, deren einer Kinosaal bald – wie es hieß – einem neuen Supermarkt weichen sollte. Wie sehr das Hotel im Niedergang befindlich war, ließ sich schon sehr leicht daran erkenne, daß Leute wie Maurice und ich zu den neuen Stammgästen in diesem Frühjahr 1983 gehörten.

Es gab Gründe, warum Helmut Kohl nach seinem kalten Putsch gegen die sozial-und-frei-demokratische Regierung die »geistig-moralische Erneuerung« des Landes ausgerufen hatte. Wenn ehemals gut bürgerliche Hotels für das asoziale Pack von der Straße Bier ausschenkten, stand es wirklich nicht mehr gut um das Abendland.

Mich interessierte das nicht sonderlich. Im März 1983 sollte ich zum ersten Mal in meinem Leben wählen dürfen. Bis zu diesem Jahr hatte ich die SPD scheiße gefunden, aus einem eher unreflektierten Gefühl heraus. Kernkraftwerke fand ich doof, Helmut Schmidt sah einfach dauernd griesgrämig aus, und die Nachrüstung mit immer fieseren Atomraketen war nicht dazu geeignet, mir einen guten Schlaf zu besorgen.

Hätte es eine vernünftige »linke« Alternative gegeben, hätte ich wohl die gewählt; aber aus dem Projekt der »Deutschen Sozialisten« ehemaliger SPD-Mitglieder war nichts geworden, und die Grünen erschienen mir als Ansammlung von Hippies, von Studienräten, angehenden Rechtsanwälten und den Kindern der reichen Industriellen. Allerdings trieb mir die Aussicht, künftig von einem Helmut Kohl und seinen Lakaien regiert zu werden, rund um die Uhr den Speichel in den Mund. Zähneknirschend richtete ich mich darauf ein, bei der ersten Wahl in meinem Leben mein Kreuzchen bei der SPD zu machen.

Oder ich nahm an der Revolution teil, die gerade lustig vor sich hin brüllte. Maurice hatte sich in Rage geredet. Nicht daß er Argumente gehabt hätte, das war nicht so wichtig – aber er wußte, was er nicht gut fand, und das schrie er lauthals hinaus. »Das sind doch alles Arschlöcher! Die wissen doch nicht, was gut ist für dieses Land. Wenn die an die Macht kommen, hat der deutsche Arbeiter nichts mehr zu lachen, und die Revolution wird weiter verhindert.«

»Als ob die Revolution von dir nicht besser verhindert werden könnte«, spottete Hans-Peter, der seinen Zivildienst im Jugendzentrum ableistete und stets über alles mögliche zu lästern pflegte. »Wenn dein alter Herr stirbt, bist du Millionär.«

Glücklicherweise hörte ihn Maurice nicht, sonst hätte er einen Streit losgetreten. Er war zu beschäftigt damit, die aktuelle Regierung zu verfluchen: die »Schweine« von der CDU, die »Nazis« um Franz-Josef Strauß bei der CSU und die »Schleimer« von der FDP. Und überhaupt »alle in diesem Scheiß-Bonn«, was sich bei ihm stets wie »Scheißbaum« anhörte. Ko-lossales Kabarett also, und an diesem sonnigen Freitag war dies ein Höhepunkt der Woche, die ansonsten bloß die lästige Schule und den dauernden Hickhack zu Hause für mich bereit gehalten hatte.

Später gingen wir alle miteinander ins Jugendzentrum, nachdem wir zuvor im »Anuschka-Grill« etwas gegessen hatte, fettige Würste und Pommes-frites die meisten. Die alle vier Wochen stattfindende JuZ-Disco lockte mit lauter Musik, preiswertem Bier und – ganz wichtig für mich! – mit Mädchen, die ich noch nicht kannte.

Wir Jungs saßen in unserer Ecke im abgedunkelten Kleinkunstforum, wie der Konzertraum des Jugendzentrums hieß, wo wir herum alberten und ansonsten unter uns zu blieben, nur um gelegentlich aufzustehen, an der Theke ein neues Bier zu holen oder im Tanzraum, der eigent-lichen Disco, zu schauen, wie sich vor allem die Mädchen zur Musik bewegten. Zwar war nicht so viel los wie bei den Discos, die regelmäßig in der örtlichen Turn- und Festhalle veranstaltet wurden, aber dafür war alles preiswerter, und die Wahrscheinlichkeit, von den »Green Berets« aus dem Murgtal oder sonst einer der Banden aus den umliegenden Landgemeinden auf die Fresse zu bekommen, pendelte sich bei Null ein. Mit den Türken gab es gelegentlich Streß, aber diese Jungs hatten die Sozialarbeiter erstaunlich gut im Griff.

Irgendwann tauchte Maurice, der vorhin verschwunden war, wieder auf. Er schwankte schon, aber er trug eine dunkle Tasche mit sich, die er so an sich gedrückt hielt, daß sie keiner sehen sollte, aber jeder bemerkte. Zielstrebig steuerte er auf mich zu. »Du!« speichelte er lautstark und richtete seinen ausgestreckten Zeigefinger auf mich. »Dich brauch' ich!«

Fast hätte ich mich am letzten Schluck Bier verschluckt. »Wofür?« gab ich verduzt zurück. »Für die Revolution etwa?«

»Genau.« Gut ein Dutzend Leute schauten zu, wie sich Maurice vertrauensvoll zu mir herun-terbeugte und mir den Inhalt seiner Taschen präsentierte. Er flüsterte so, daß ich ihn über den Lärm der Disko hinweg verstehen konnte, die anderen um uns herum selbstverständlich ebenso. »Das hier ist die Bombe, mit der wir den Spießern in der Stadt heute nacht endlich mal zeigen können, was Sache ist.«

Interessiert betrachtete ich, was er mir präsentierte. In der Tasche schaukelten verschiedene Spraydosen durcheinander, dazu ein schon angerosteter Farbeimer und ein Pinsel. Sehr revolutionär wirkte das nicht, aber ich hielt die Klappe. Stattdessen versicherte ich Maurice ohne viel Worte, daß ich ihm jederzeit helfen würde.

»Heute nacht«, zischte er weiter auf mich ein. Ich hatte bereits das Gefühl, der Speichel bildete auf meinem Gesicht wahre Bäche, die über meine Wangen bis zum Kinn liefen, um dann auf den Kragen meiner Winterjacke zu träufeln. »Heute nacht ziehen wir zwei los, und wir werden aufrührerische Parolen an die Wände bringen. Das wird die Stadt in Aufregung versetzen, aber das ist erst der Anfang.«

Er stellte die Tasche zu meinen Füßen ab. »Paß da mal drauf auf. Ich bin gleich wieder da.« Maurice stand auf, ging zur Theke, wo er ein Bier bestellte und sofort in eine Diskussion über Sinn und Unsinn von Geschwindigkeitsbegrenzungen im Wald verwickelt wurde.

Nachdenklich schaute ich mir die Tasche an. Eigentlich war es keine schlechte Idee, mit einer Spraydose alle möglichen Parolen an die Wände zu bringen. Witzig sollten sie sein, das war meine Vorstellung, weil das die Menschen zum Lachen brachte. Nur fiel mir um diese Zeit kein Spruch ein, der gut genug wäre, daß ich selbst hätte grinsen können.

Als Maurice nach einer halben Stunde immer noch nicht zurück gekommen war und ich mein Bier leer hatte, steckte ich kurzerhand eine Dose in die Innentasche meiner Jacke. Ich wußte nicht, was ich damit anfangen wollte, konnte mir aber vorstellen, daß mir bald etwas einfiele. Geld für ein weiteres Bier hatte ich keines, also brachte ich die leere Flasche zur Theke zurück. Auf der Tanzfläche schaute ich eine Weile den Mädchen zu, aber die Blondine, an der sogar die Latzhose gut aussah und auf die ich mich gefreut hatte, war leider nicht da.

Mit einem leichten Gefühl von Frust ging ich zu den Toiletten. Dort stieß ich wieder auf Mau-rice. Er lehnte an dem Stück Wand zwischen Toilette und der Treppe, die hoch in den ersten Stock des Jugendzentrums führte. Ihm gegenüber lungerte eine Horde dreizehn- bis fünfzehn-jähriger Türken herum und hatte offensichtlich schon Bauchschmerzen vom Lachen.

»Die Revolution wird kommen!« schrie Maurice mit überschnappender Stimme. »Und Helmut Kohl wird nie ein echter Kanzler in diesem Land werden, das lassen die Arbeiter und die Revolutionäre nicht zu.« Er tat mir leid, und ich wollte nicht auch noch über ihn lachen. Als ich die Treppe hinunter ging, hörte ich ihn schreien. »Die Arbeiter und die Intelligenz müssen zusammenhalten, um der Bourgoisie die Macht wegzunehmen.«

Es schüttelte mich. Von Politik hatte ich nicht sonderlich viel Ahnung, und ich hielt Franz Josef Strauß ebenfalls für einen Faschisten. Aber die Vorstellung, von einem Revolutionär wie Maurice regiert zu werden, bereitete mir nicht gerade eine wohlige Vorfreude. Allerdings, und das beruhigte mich sogar in angesoffenem Kopf, würde das so schnell nicht eintreffen.

Das letzte, was ich hörte, als die Tür des Jugendzentrums hinter mir zufiel, war ein »Nie Helmut Kohl!« und das laute Lachen der türkischen Jugendlichen. Ich schüttelte den Kopf und ging zwischen den Resten der Schneehaufen hindurch. Der Himmel war klar, eine kalte Nacht legte sich über die Stadt im Schwarzwald. Wenn ich rasch marschierte, brauchte ich vielleicht fünfzig Minuten für den Marsch durch die Stadt und durch den Wald, kam so noch kurz vor Mitternacht heim. Um diese Zeit nahm mich, wenn ich zu trampen versuchte, garantiert niemand mit.

Helmut Kohl als Bundeskanzler – da hatte Maurice recht: Das war wirklich eine grausige Vorstellung. Mich tröstete nur, daß sich ein Mann wie Kohl angesichts seiner offensichtlichen Dummheit nicht lange würde halten können. Ein beruhigender Gedanke ...