29 Mai 2020

Die Geschichte vom Viehhändler

Aus der Serie »Dorfgeschichten«

Ich war noch ein Junge, las aber bereits dicke Bücher. Im Alter von neun Jahren entdeckte ich mein Interesse an Geschichte, und so nahm ich mir auch Bücher über den Zweiten Weltkrieg vor. Manchmal redete ich mit meinen Eltern darüber, die mir häufig auswichen oder nur allgemeine Dinge von sich gaben. Die Zeit sei schlimm gewesen, sehr schlimm, und man habe schauen müssen, wo man geblieben war.

»Aber was war dann mit den Juden?«, platzte ich eines Abends heraus, als ich mit meinem Vater in der Sitzecke saß. Es war warm, er hatte ein Bier vor sich stehen, und bald würde die Sonne untergehen. Der Geruch nach Stall und frischem Heu drang zu uns herüber, die Wiese hinter unserem Zaun dampfte geradezu.

Er sah mich eine Weile lang nur an. »Die hat man alle umgebracht«, fügte ich hinzu, als ob er nicht selbst über die Vergangenheit Bescheid wüsste. »Und … wie war das hier mit den Juden und dir und unserer Familie?«

Mein Vater erzählte mir, dass er selbst nie einen Juden persönlich kennengelernt habe. Im Dorf sowie in der Kreisstadt habe es keine Juden gegeben. Doch in der kleinen Stadt Dornstetten, rund sechs Kilometer und einen strammen Fußmarsch von unserem Dorf entfernt, habe ein jüdischer Viehhändler gelebt. Mehr wisse er aber nicht mehr.

»Und was ist mit dem Viehhändler geschehen?«, fragte ich.

»Den haben sie fortgebracht, der wurde umgebracht.« Er sagte es ohne viel Ausdruck in der Stimme, es war offenbar eine Tatsache, und die musste nicht interpretiert werden.

Ich fragte nach, aber so viel mehr wusste er nicht oder wollte er nicht sagen. Er wusste weder, wohin man den Viehhändler geschafft hatte, noch wo er getötet worden war. Er erinnerte sich angeblich auch nicht an den Namen.

»Aber das hat jeder mitbekommen«, fügte er dann sehr ernst hinzu. »Jeder Bauer in jedem Dorf hier hat mitgekriegt, dass der Viehhändler umgebracht worden ist.«

Ich verstummte und bohrte nicht weiter. Ob der Händler eine Familie hatte und was mit dieser geschehen war, das fragte ich meinen Vater nie. Es gab Themen, auf die bekam man keine konkrete Antwort – das lernte ich früh.

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