21 März 2020

Einen Kopf zu groß

Aus der Serie »Genau zehn Jahre zurück«

Ich musste pinkeln. Das empfand ich nicht als außergewöhnlich. An diesem Samstagmittag ernährte ich mich praktisch nur von Kaffee. Damit der Kaffee nicht zu stark wirkte, musste ich immer wieder Wasser trinken. Die Folge: Die Blase war ständig voll.

Doch war es mittlerweile nicht mehr so einfach, auf die Toilette zu eilen, nicht einmal für einen Mann. Wie es viele Frauen schafften, sich angesichts der langen Schlangen vor den Damentoiletten nicht in die Hose zu machen, verstand ich nicht.

Wir hatten unseren Stand auf der Leipziger Buchmesse im März 2010 in der Messehalle 2.0. In unserer Nähe gruppierten sich die Stände der Comic-Verlage, von denen sich viele auf Mangas spezialisiert hatten. Und so drängten sich Tausende von Jugendlichen in den Gängen und zwischen den Ständen, viele davon verkleidet.

»Ich muss mal«, sagte ich zu den Kollegen am Stand. Ich wies in Richtung der Toilette und kam mir vor wie ein Soldat, der zu einem Stoßtrupp-Unternehmen aufbrach.

»Komm gut durch!«, gab einer der Autoren zurück, der sich seit einer Stunde bei uns an einem Tisch aufhielt und abwechselnd Gummibärchen oder Kekse futterte. Er hatte sichtlich keinerlei Lust, sich in das Getümmel zu stürzen.

Ich auch nicht. Aber ich musste ja.

Keine drei Minuten später verfluchte ich mich dafür. Ich war eingekeilt. Rings um mich herum standen Jugendliche in den unterschiedlichsten Verkleidungen. Die meisten waren gut einen Kopf kleiner als ich, nur das eine oder andere Schwert aus Kunststoff oder Pappmaché ragte neben mir in die Höhe.

Meine Blase drückte, ich hasste alle Menschen um mich herum. Ich war es bereits gewöhnt, gut eine Viertelstunde für die dreißig Meter zu brauchen, die unseren Messestand von der Toilette trennten, doch nun war ich kurz davor, vor Wut zu platzen.

Ich könnte um mich schlagen, ich könnte mir den Weg freiprügeln. Ein Kollege, den ich vom Sehen her kannte, winkte mir aus seinem Verlagsstand zu. Er grinste, schien sich köstlich über meine Notlage zu amüsieren. Er hielt die Faust in die Höhe, rief mir eine launige Bemerkung zu, die ich auf die Entfernung nicht verstand. Ich schauspielerte gute Laune und grinste zurück.

Normalerweise freute ich mich über die Manga-Kids und Cosplayer, fand die Klamotten toll und mochte es, dass sie die Messe so aufhellten und gewissermaßen verzauberten. Wenn ich aber aufs Klo wollte, sank meine Begeisterung für Verkleidete drastisch in den Keller.

Als es eine Bewegung in der Gruppe gab, durchfloss mich eine Woge der Erleichterung, die mich bis in die Toilette trug. Und dort nahm ich mir vor, an diesem Tag künftig nichts mehr zu trinken …

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