13 August 2025

Lektüre im Keller

Es war stets etwas Besonderes, ins Kaufhaus Nestle zu gehen. An solchen Tagen hatte meine Mutter ein straffes Programm für mich geplant: Sie zog mich ordentlich an, meine Haare wurden mit dem Kamm einigermaßen in Form gebracht, und dann fuhren wir mit dem Bus vom Dorf aus nach Freudenstadt.

Vom Marktplatz aus spazierten wir zum Kaufhaus, wo uns später mein Vater mit dem Auto abholen würde – er hatte gegen 16 Uhr Feierabend und kam von der Baustelle. In Zeiten ohne Telefon mussten solche Verabredungen exakt sein, und sie wurden auch exakt eingehalten.

An diesem Tag traf sich meine Mutter mit einer anderen Frau, die sie seit langem kannte. Gemeinsam gingen sie – ich stets im Schlepptau – ins Café des Kaufhauses. Dort saßen wir zu dritt an einem Tisch: Die beiden Frauen tranken Kaffee und unterhielten sich über gemeinsame Bekannte, ich aß ein Stück des leckeren Apfelkuchens.

Anfangs war ich damit beschäftigt, die prächtige Einrichtung zu bewundern. Das Café war schick, zumindest für eine kleine Stadt wie die unsere. Es war mit viel Holz eingerichtet, Messing glänzte, und der Fußboden schimmerte in schwarz und weiß. Die Bedienungen trugen weiße Blusen und schwarze Röcke, dazu Schürzen mit Stickereien.

Irgendwann langweilte ich mich. Weil ich ohnehin pinkeln musste, fragte ich meine Mutter, ob ich aufs Klo gehen könnte. Sie zeigte mir den Weg zur Toilette – »da vor, dann die Treppe hinunter«, bevor sie mich mit wichtigen Ermahnungen, ich solle nicht so schnell laufen, gehen ließ.

Während ich durch das Café ging, sah ich staunend den Leuten zu. Die meisten waren gut gekleidet; die Männer trugen Anzüge, die Frauen ihre schönsten Kleider. Wenn man in ein Café ging, zog man sich »anständig« an; so war das in den späten 60er-Jahren.

Weil ich mir das Lesen schon selbst beigebracht hatte, obwohl ich noch nicht in die Schule ging, las ich alles, was Buchstaben hatte. Ich entzifferte große Werbeaufdrucke und freute mich darüber, das Schild »Toiletten« ebenfalls lesen zu können. Ich ging die Stufen hinunter, meine Schritte hallten in dem großen Treppenhaus wider. Dort betrat ich den Bereich, der für Männer vorgesehen war.

Direkt nach dem Eingang hing ein Automat an der Wand, mit dem sich ein Mann herumplagte. Er schlug gegen die Seite des Automaten, er schimpfte wütend. Anscheinend hatte er Geld hineingesteckt, es war aber nichts herausgekommen. Als er mich sah, verstummte er.

Ich betrat eine Kabine. Weil ich noch zu klein für die Pissoirs war, die von den Erwachsenen genutzt wurden, hatte mir meine Mutter beigebracht, mich im »großen Klo« so hinzustellen, dass ich die Schüssel traf und nichts daneben ging.

Während ich mein Geschäft verrichte, hörte ich den Mann am Automaten schimpfen. Ich verstand einige der Kraftausdrücke, mehr nicht; dann schlug er gegen den Automaten und ging mit stampfenden Schritten die Treppe hinauf.

Nachdem ich in der Kabine alles erledigt hatte, wusch ich mir die Hände am Waschbecken, das für meine Größe viel zu hoch angebracht war. Dann bummelte ich neugierig zu dem Automaten hinüber, über den der Mann sich so aufgeregt hatte.

Auf dem Automaten stand in großen Buchstaben das Wort »Hygiene«. Das verstand ich, es ging also um Sauberkeit. Meine Mutter redete auch von »Hygiene«, wenn sie mich ermahnte, die Hände mit Seife zu waschen. Die bunten Bilder auf dem Automaten verstand ich nicht, ich erkannte aber, dass eines der silbernen Fächer unten offen stand.

Ich zog es vollends auf und hatte auf einmal eine Packung in der Hand. Sie war bunt bedruckt, und wieder stand etwas von »Hygiene« darauf. Das sah interessant aus, vielleicht war das etwas, das wir auch daheim benutzen konnten. Wenn man es schon vor der Toilette in einem Automaten anbot ...

Als ich von oben Schritte hörte – es kam also jemand die Treppe herunter! –, steckte ich die Packung spontan in die Hosentasche. Dann machte ich, dass ich aus dem Keller hinauskam.

Ich eilte in die obere Etage und ging schnell zu dem Tisch, wo meine Mutter sich immer noch mit der anderen Frau unterhielt. Dass ich länger weggeblieben war als üblich, schien sie nicht bemerkt zu haben.

»Guck mal, Mama«, sagte ich stolz und trat näher an den Tisch heran. »Ich hab dir was mitgebracht.«

Und mit einer Geste, mit der ich sonst vielleicht ein Geschenk zum Geburtstag übergeben würde, legte ich die Packung mit Kondomen auf den Tisch, genau zwischen meine Mutter und die mir unbekannte Frau.

Keine Kommentare: