25 November 2022

Im Schlosscafé

»So etwas gibt es nur in der Provinz!«, tönte der Mann am Nebentisch. Er sprach so laut, dass ihn alle Menschen deutlich hören konnten, die mit ihm auf der Terrasse des Schlosscafés saßen. »Der Kuchen und die Torten sind gut, der Kaffee schmeckt, und das alles ist richtig billig.«

Wir hielten uns in Öhringen auf, einer kleinen Stadt im nördlichen Baden-Württemberg. Mehrfach war ich in all den Jahren an der Autobahn daran vorbeigefahren, aber an diesem Tag hatte es sich ergeben, dass wir durch die Stadt bummelten, uns an den schönen alten Häusern und dem wunderschönen Park erfreuten. Zum Abschluss des Sommerspaziergangs bot es sich an, im Schlosscafé Nussknacker ein wenig zu pausieren.

Der laut sprechende Mann war schätzungsweise fünfzig Jahre alt. Er saß mit zwei Jugendlichen und einer Frau in seinem Alter an seinem Tisch, dazu kamen eine Frau und ein Mann, beide um die dreißig; es sah so aus, als habe man sich zu einem Familienausflug getroffen. Sie taten das, was die meisten Menschen auf der Terrasse taten: Sie tranken Kaffee, sie aßen Kuchen, sie genossen den warmen Sonnentag.

Mit dem einen Unterschied, dass der Mann im dunkelblauen Hemd alle anderen Leute auf der Terrasse an seinem Wissen und an seiner Meinung teilhaben ließ.

»Der ländliche Raum …« Jedes Wort sprach er aus, als sollte der Spott daraus tropfen. »Also auf dem Land ist ja vieles einfach hinterwäldlerisch, aber hier gibt es halt noch echte Schafferle.« Er hob seine Tasse an. »Klar, der Kaffee kommt nicht von hier, aber sie kriegen ihn besser hin als bei uns an der Alster.«

Spätestens ab diesem Satz wusste jeder auf der Terrasse, woher die Familie kam: Leute aus Hamburg, die es – aus welchen Gründen auch immer – in die schwäbische Kleinstadt verschlagen hatte. Sprach der Mann so laut, weil er es immer tat, oder hatte er eine laute Stimme, weil er wollte, dass ihn alle Leute in der Nachbarschaft verstanden? Ich wusste es nicht.

»Und Kuchen können sie auch«, fügte er hinzu. »Das alles ist richtig billig.«

»Preiswert heißt das, Schatz«, wandte die Frau ein, die neben ihm saß. »Billig ist abwertend.«

»Pah! Billig, preiswert, was auch immer. Wir sind doch hier bei den Schwaben, die sind doch sparsam, da werden sie bei so etwas keinen Stress machen.«

In der Tour ging es weiter. Wir unterhielten uns an unserem Tisch eher leise, um die anderen Leute nicht zu stören, hielten dann aber inne und hörten lieber dem Mann aus Hamburg zu. Er war laut, er war streckenweise beleidigend, und er sprach so laut, dass ihn jeder Mensch problemlos verstehen konnte.

Was er sagte, war nicht so wichtig. Er sprach über Kaffee und Kuchen mit derselben Bestimmtheit wie über Kindererziehung, das Wetter und die Politik der aktuellen Bundesregierung. Es gab kein Thema, zu dem er sich nicht klar und deutlich äußern konnte. Ab und zu sagte eine andere Person am Tisch etwas, eher ein Kommentar als eine Erwiderung, aber es blieben stets leise formulierte und zurückhaltende Ausnahmen. Ich ignorierte ihn irgendwann, und die Silben, die er von sich gab, verschmolzen in meinem Kopf zu einem lauten Brummen, das ich gut ausblenden konnte.

Als wir zahlten und gingen, redete der Mann immer noch. Wir gingen durch das Schlosscafé hinaus ins Freie. Dort hörten wir ihn dann wirklich nicht mehr, und ich atmete auf.

»So ein Schwätzer!«, sagte ich grimmig. »Der hörte ja gar nicht mehr auf.«

»Du hast aber auch die Klappe gehalten und dich nicht gegen sein Gerede verwehrt«, sagte meine Begleitung. »Du hättest ihm widersprechen können.«

»Dann hätten wir einen Streit gehabt.«

»Oder auch nicht. Wir wissen’s nicht, und wir werden’s nie erfahren.« Sie musterte mich kritisch. »Ist’s ein Fehler, sich zurückzuhalten und still zu bleiben, oder ist’s ein Fehler, einen Streit zu provozieren? Was ist feige, was ist mutig, was ist richtig?«

Ich runzelte die Stirn. »Das setzen wir jetzt aber nicht fort, oder?«

»Du kannst ja zurückgehen und den freundlichen Mann fragen, welchen Rat er für dich hätte.« Sie grinste. »Ich bin sicher, dass er sich zu dem Thema auch laut und deutlich äußern würde.«

Ich verdrehte die Augen. Selbstverständlich drehte ich nicht um, und ebenso selbstverständlich ging ich nicht in das Café zurück.

Bei einem weiteren Rundgang stellte sich heraus, dass Öhringen einige echt schöne Flecken aufwies. In meinem Ohr blieb aber die Stimme des laut sprechenden Mannes aus Hamburg. Es gibt Eindrücke, die einfach alles andere überlagern …

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