Ansatzlos begann der Nachbar zu schreien. Er stand auf dem Weg, keine zwanzig Meter von uns entfernt und brüllte meine Mutter an: »Du Drecks-Apostel! Geh zurück in dein verschissenes Haus und lass dich nicht auf der Straße blicken.« Er benutzte den Dialekt unserer Gegend, der bei Beleidigungen noch grober und bäuerlicher wirkte, als er es ohnehin schon tat.
Meine Mutter stand da wie erstarrt. Ich war acht oder neun Jahre alt und blieb neben ihr stehen, sah zu dem Mann hinüber und verstand nicht, woher der Wutausbruch kam.
Der Mann gab keine Begründung, er brüllte einfach nur weiter. »Du Sau-Apostel! Du Drecksau! Du mit deiner Apostelei!«
Wir waren neuapostolisch, gehörten damit zu einer kleinen Religionsgemeinschaft in unserem Dorf. Im täglichen Umgang spielte es normalerweise keine Rolle, ob jemand evangelisch oder katholisch war, zur Neuapostolischen Kirche gehörte oder zur Hahnischen Gemeinde, zum Württembergischen Brüderbund oder zu den Methodisten. Sonntags traf man sich häufig auf dem Weg zur Kirche oder zurück; die Menschen trugen ihre Sonntagskleidung und grüßten sich höflich. Und über die Unterschiede zwischen den Religionsgemeinschaften wurde nicht gesprochen, zumindest nicht vor den Kindern.
Welches Problem der Nachbar auf einmal hatte, war mir unklar. Ich verstand es nicht. Er brüllte und tobte, schüttelte die Faust und drohte mit »Vergasen«, was ich gleich zweimal nicht verstand.
Endlich löste sich meine Mutter aus der Erstarrung. »Wir gehen jetzt nicht einkaufen«, sagte sie. Eigentlich hatte sie zur Metzgerei gehen wollen, um dort frische Wurst und Speck zu kaufen. »Das müssen wir uns nicht antun.«
Sie nahm mich bei der Hand, und ich ließ es geschehen, obwohl ich diese Geste schon lange nicht mehr mochte. Gemeinsam gingen wir ins Haus zurück; meine Mutter schloss die Tür hinter sich ab. Danach ließ sie mich mit dem Einkaufskorb im Flur stehen, ging in die Toilette und machte dort ebenfalls die Tür zu.
Ich ging zur Küche und spähte so zum Fenster hinaus, dass man mich sicher nicht erkennen konnte. Der Nachbar stand mitten auf der Straße und starrte zu unserem Haus herüber. Er sagte kein Wort, er drohte nicht mehr, aber sein Gesicht war knallrot. Als ob er gleich platzt, dachte ich. Dann drehte er sich um und stapfte zu seinem Gartentor, wo er schnell hinter den Büschen verschwand.
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