Die in München lebende Autorin Lucia Herbst gewann den Seraph für das Jahr 2022 – in der Kategorie »bestes Debüt« – für ihren Fantasy-Roman »Medusa – verdammt lebendig«. Das war Grund genug für mich, mich auf den Roman einzulassen. Veröffentlicht wurde er im Herbst 2022 als Taschenbuch im Piper-Verlag.
Ich gestehe, dass ich anfangs meine Schwierigkeiten hatte, weil ich mit dem Präsens-Stil der Autorin fremdelte. Das ist Geschmackssache, ich weiß, aber: Romane erzählen von etwas, das geschehen ist – auch wenn sie in der Zukunft spielen –, weshalb ich glaube, dass die Vergangenheitsform immer besser geeignet ist, den Leser in die Geschichte hineinzuziehen. Dann aber kam ich immer besser in die Geschichte hinein und schmökerte sie letztlich am Stück durch. Es handelt sich um einen außergewöhnlichen Fantasy-Roman.
Worum geht es? Tatsächlich um Medusa, die Figur aus den griechischen Heldensagen. Jeder kennt sie und die Darstellung ihres Kopfes, den keine Haartracht ziert, sondern auf dem sich Schlangen winden. Wer Medusa ins Gesicht blickt, erstarrt sofort zu Stein – das ist der Fluch dieser Frau.
Lucia Herbst nimmt Medusa ernst und verlegt sie als Figur in die heutige Zeit. Sie sieht so aus wie in den klassischen Sagen beschrieben, und sie ist gefährlich. Also tarnt sie sich die meiste Zeit und kann eigentlich nur dann auf die Straße gehen, wenn – sie lebt in Köln – der Karneval tobt und sich niemand über seltsam aussehende Menschen wundert. Diese hübsche Idee hatte ich so nicht erwartet, sie wird aber nicht weitergeführt.
Lucia Herbst greift das Thema nämlich nicht humoristisch auf, sondern sehr ernsthaft. Wenn man möchte, ist ihr Werk eine Mixtur aus Fantasy und Gerichtsroman, gleichzeitig ein spannender Kommentar zu aktuellen »Me Too«-Diskussionen.
Konkret: Es geht um eine Vergewaltigung und ihre Folgen. Mir war dieser Hintergrund gar nicht mehr bewusst. Dass ich die griechischen Sagen gelesen habe, ist auch schon viele Jahre her. Aber Medusa wurde von Poseidon vergewaltigt – und zur Strafe für ihre Vergewaltigung wurde sie von Athene in ein Monster verwandelt. Nun sucht sie Gerechtigkeit und zieht vor ein Göttergericht.
Okay, das muss man als Leser akzeptieren. Auf einer Insel mitten im Meer, abgeschirmt von den Menschen, leben alle möglichen Gottheiten: die halb vergessenen Götter der Ägypter, die allgemein bekannten Götter der Griechen, dazu Götter der Germanen oder Hindus. Sie konferieren miteinander, sie unterhalten eine Polizei, und sie führen einen Prozess, bei dem Zeugen aufgeboten werden und Beweise auf den Tisch kommen.
Nimmt man die Prämissen der Autorin ernst – die Götter, die wirklich in unserer Zeit existieren, und ihre Gerichtsbarkeit – und akzeptiert sie, ist der Roman in sich schlüssig. Es gibt ein wenig Action, es gibt Blicke in die Vergangenheit, es werden Freundschaften geschlossen und Feindschaften an ihr Ende gebracht. Medusa ist eine Frauengestalt, die traumatisiert ist und nach Jahrtausenden ihr Trauma bekämpfen möchte.
Der Roman ist außergewöhnlich: eine feministische Fantasy, die einer gesellschaftspolitischen Agenda folgt. Das beschreibt die Autorin aber nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit großer Freude am Erzählen. Die Geschichte ist unterhaltsam, die Hauptfigur und ihre Freunde überzeugen. Die phantastische Welt bleibt zudem – wenn man sich auf sie einlässt – in sich glaubhaft.
»Medusa – verdammt lebendig« war im Jahr 2022 wirklich einer der besten phantastischen Romane; das ist mir nach der Lektüre des Werks klargeworden. Wer eine ungewöhnliche Fantasy-Lektüre schätzt, sollte sich getrost auf den Roman einlassen.
Das Taschenbuch ist 352 Seiten stark und kostet 18,00 Euro. Man kann es mithilfe der ISBN 978-3-492-50616-8 überall im Buchhandel kaufen. (Diese Rezension erschien bereits im September 2023 auf der Internet-Seite von PERRY RHODAN. Hier wird sie aus dokumentarischen Gründen ebenfalls veröffentlicht.)
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