20 April 2022

Was der Bub soll

Meine Lehrer waren sich in der vierten Klasse einig: Ich sollte aufs Gymnasium wechseln. Ich hatte gute Noten, und mir machte in Deutsch niemand etwas vor. Ich hatte die vorher unbekannte Hochsprache richtig gut gelernt und schrieb Aufsätze, die allgemein gelobt wurden.

»Es wäre schade, wenn du nicht aufs Gymnasium gehen könntest«, sagte mein Klassenlehrer und suchte das Gespräch mit meinen Eltern. Diese ließen sich nur nach gutem Zureden darauf ein.

Beide fanden die Aussicht, ihr Sohn könnte auf das Gymnasium wechseln, eher befremdlich. Mein Vater war Elektriker in einer Fabrik, meine Mutter arbeitete als Putzfrau. Wir empfanden uns als »einfache Leute vom Dorf«, und so ein Gymnasium kam uns fremd vor. Auch ich fand die Aussicht, jeden Tag mit dem Bus in die Stadt zu fahren, wo ich auf Lehrer treffen würde, die sogar Latein unterrichteten, eher unheimlich.

Die Verwandtschaft hatte sowieso eine klare Meinung: »Der hat eh schon zu viele Flausen im Kopf«, sagte eine Tante, »auf der Oberschule wird alles nur noch schlimmer.«

Ein Onkel, der immerhin die Handelsschule absolviert hatte, warnte mich: Wer aufs Gymnasium gehe, müsse sehr viel lernen Das sei anstrengend und nicht gut für den Kopf. Ich solle doch erst mal die Hauptschule abschließen und eine Lehre machen – und dann sehe man weiter. Wenn dort alles klappe, könnte ich später weitermachen, eine weiterführende Schule besuchen beispielsweise. »Aber Handwerk hat immer goldenen Boden.«

Das wiederum brachte meine Eltern zum Nachdenken. Während ich zum Handwerkern, sehr zu ihrem Leidwesen, nur eingeschränkt taugte, schrieb ich ganze Schulhefte mit erfundenen Geschichten voll. Es war offensichtlich, dass ich eher ein Schreiberling als ein Bastler war. Ich las dicke Bücher und unterhielt meine Freunde aus der Nachbarschaft mit erfundenen Gruselgeschichten; so richtig normal fanden mich wohl viele nicht.

Es dauerte recht lange, bis man sich einig wurde. Unser soziales Umfeld bestand aus Arbeitern, Handwerkern und einigen wenigen Angestellten. Niemand studierte, niemand ging aufs »Gymmi« oder die »Oberschule«, und man hatte eher eine Abneigung gegenüber den »besseren Leuten«. Schon Kinder, die auf die Realschule gingen, galten als etwas Besonderes.

Meine Mutter sprach mit dem Priester unser örtlichen Gemeinde. Der hatte ohnehin ein Problem mit mir. Ich gehöre zu jenen, die immer meinten, sie wüssten alles. Dabei hatte ich nur immer wieder – ich war extrem bibelgläubig – kritische Fragen zu Stellen in der Heiligen Schrift gestellt, die mir unlogisch vorkamen.

Letztlich gab meine Mutter den Ausschlag. »Wir probieren‘s«, sagte sie. »Wenn’s nicht klappt, kann er ja immer noch auf die Hauptschule gehen.« Und so begann ich im Sommer 1974 mein erstes Schuljahr auf dem Kepler-Gymnasium …

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