Aus der Serie der »Dorfgeschichten«
Der Schnee trieb in dicken Flocken durch das Dorf. Wer zu lang am Straßenrand stehenblieb, war innerhalb kürzester Zeit mit einer weißen Schicht bedeckt. Im Dorf kam das einzige Räumfahrzeug kaum voran, die Männer des Bauhofs waren zudem mit Schippen unterwegs, um Kreuzungen freizuschaufeln.
Für Heiner und mich fühlte sich alles an wie ein Paradies. Wir stromerten durch die Wege unseres Dorfes, versteckten uns hinter Autos, bewarfen uns gegenseitig mit Schneebällen oder versuchten, verschneite Äste durch gezielte Schüsse von ihrer schweren Last zu befreien. Wir lachten, wir rannten herum, wir schubsten uns gegenseitig in den Schnee, wir waren so begeistert, wie es acht Jahre alte Jungs an einem Januar-Nachmittag im Schwarzwald eben sein konnten.
»Wir spielen Partisanenkrieg«, schlug Heiner vor.
Unsere Väter waren beide im Krieg gewesen, beide an der Ostfront, und beide redeten nicht über ihre Erlebnisse Aber wir wussten, was Partisanen gewesen waren, und in unserer Vorstellung hatten die wenigen Aussagen über den Krieg und irgendwelche Abenteuergeschichten eine Mischung gebildet, die hoffentlich kein Erwachsener jemals mitbekam.
Ich fand seinen Vorschlag gut, und so spielten wir Partisanenkrieg. Wir versteckten uns hinter parkenden Autos oder Büschen. Wenn Erwachsene oder Kinder in der Nähe waren, sprangen wir auf einmal hinter unserem Versteck vor und bewarfen sie mit Schneebällen. Wenn dann die anderen kreischten oder schimpften, in Deckung sprangen oder wegliefen, lachten wir und flitzten davon. Von Jugendlichen ließen wir die Finger; gegen einen zornigen Fünfzehn- oder Sechzehnjährigen hätten wir keine Chance, und das wussten wir.
Wir stromerten durch das Dorf, angefangen bei der Seite, auf der wir wohnten, durch die Talsenke zwischen den beiden Hügeln, dann langsam hoch zu dem Berg, wo auch unsere Schule kam und sich das Neubaugebiet mit den »Reing‘schmeckten« erstreckte.
Als wir vor einem Haus ankamen, an dem zwei große Fenster offenstanden, hielten wir an. Wir hatten beide denselben Gedanken. »Da putzt jemand und lässt frische Luft rein«, meinte ich.
Heiner nickte. »Und da kann ein bisschen mehr Aufwand gar nicht schaden.«
Wir lachten uns an, dann machte jeder zwei Schneebälle. Wir kneteten sie fest, damit sie gut und weit flogen, bevor wir uns in den Sichtschutz eines Autos stellten. Es schneite nach wie vor, und man konnte uns wohl nicht so schnell erkennen. Aber wir wollten sicher sein, im Schneetreiben verschwinden zu können.
»Niemand da«, sagte ich, nachdem ich eine Weile auf das Fenster gestarrt hatte.
»Na dann«, sagte Heiner.
Wir sprangen hinter dem Auto hervor und warfen je einen Ball. Ich traf nur die Wand, Heiners Ball flog ins Innere des Raumes. Wir sahen uns an, dann warfen wir erneut. Diesmal traf er nur die Wand, während mein Schneeball ins Innere flog. Das Geräusch war dumpf, nichts klirrte, also hatten wir nichts zerstört.
Aus dem Zimmer drang dennoch ein lauter Schrei. Eine Frau empörte sich lauthals und in lupenreinem Hochdeutsch. Wir duckten uns hinter das Auto und verschwanden zwischen einigen Schneehaufen.
Die Frau sah wohl zum Fenster hinaus, sie zeterte und schimpfte. Wir versuchte, uns das Lachen zu verkneifen, und rannten so schnell wie möglich, gelangten auf die tief verschneiten Wiesen, die sich zwischen dem Dorf und dem Wald erstreckten.
Am nächsten Tag sahen wir die Frau wieder. Sie saß in unserer Kirchengemeinde an der Orgel und spielte, während die Anwesenden ihre Kirchenlieder sangen. Sie wirkte gelöst und freundlich, ein neues Mitglied in unserer Gemeinde, das offensichtlich erst seit Kurzem im Dorf wohnte.
Sie sollte nie erfahren, wer die Schneebälle so geschickt ins Wohnzimmer geworfen hatte, dass sie die Torte getroffen hatten, die dort zum Kühlen aufgestellt worden war.
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