Meine Mutter betrachtete den Leiterwagen, den ich eben aus dem Schuppen hinter dem Haus geholt hatte. Mit ihm wollte ich Grünschnitt, der nach unserer Gartenaktion angefallen war, zu der Stelle bringen, an der alle Nachbarn ihre Blätter und ihren Biomüll einfach entsorgten: Er wurde schlichtweg eine Böschung hinunter gekippt und sollte im Verlauf der Jahre eine Senke auffüllen.
»Mit so einem Leiterwagen sind wir während des Krieges oft durch die Stadt gezogen«, sagte sie in dem schwäbischen Dialekt, den wir daheim benutzten. Das Wort »Leiterwagen« wurde dabei eher wie »Loatrawägele« ausgesprochen.
Ich fragte nach. »Wieso durch die Stadt?« Ich wusste, wo das Haus meiner Großeltern mütterlichseits gestanden hatte, und ich wusste ebenfalls, dass der große Bunker für die Bevölkerung auf der anderen Seite der Stadt nach wie vor existierte.
»Wenn im Radio kam, dass die Bomber zu uns unterwegs waren, hat unsere Mutter alles in den Leiterwagen gepackt, dann sind wir losgezogen«, erzählte sie. Die Mutter habe den Wagen gezogen, in dem die kleinen Kinder gesessen seien; die großen Mädchen hätten den Wagen geschoben, während die Buben in ihren Rucksäcken ausreichend zu essen und zu trinken schleppten.
Dann ging es eine weite Strecke den Hügel hoch und quer durch die Stadt. Freudenstadt war alles andere als groß oder bedeutend, aber auf einer Anhöhe erbaut, und die Bunkeranlagen befanden sich an den Stellen, wo die Berge steil anstiegen. Die Familie hatte also gut fünf Kilometer zurückzulegen, manchmal jeden Tag.
Mein Großvater war bei der Reichsbahn beschäftigt, was in jenen Tagen – so erzählte meine Mutter – auch nicht einfach war. Oft wurden die Züge von Tieffliegern angegriffen, und die Zugführer oder Heizer mussten um ihr Leben rennen. Ihre Mutter war also allein für die Familie verantwortlich, wie viele Frauen in dieser Zeit.
»Wenn wir dann durch die Stadt gingen, wussten die Leute, dass bald die Bomber kamen«, erzählte sie weiter. »Da standen die Leute vor ihren Häusern und sagten, ›oh, wenn die Frau Vögele mit ihren Kindern kommt, dann ist Bombenalarm‹. Und so waren wir für manche Leute so etwas wie ein Bombenalarm im Leiterwagen.«
Sie schüttelte den Kopf, als müsste sie die Erinnerungen an Krieg und Zerstörung, die brennende Stadt und die fürchterlichen Tage danach abschütteln. »Ab jetzt!«, wies sie mich dann an. »Es wird Zeit, dass du deine Arbeit erledigst.« Sie lachte mir zu, auf einmal wieder die fröhliche Mutter, die ich so liebte. »Es gibt danach auch einen Apfelkuchen.«
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