Aus der Serie »Dorfgeschichten«
Wir saßen zu viert in unserem VW-Käfer und rollten auf Heilbronn zu. Mein Vater fuhr ungern über die Autobahn, also nahmen wir die Landstraßen, entlang an kleiner Städte und durch winzige Dörfer. Wir kamen an Weinbergen und einigen Wäldern vorbei, es gab viel zu gucken. Es war ein herrlicher Sonntag im Frühling, eine Woche vor Ostern, irgendwann am Ende der 60er-Jahre.
Meine Schwester und ich saßen auf der Rückbank des Käfers; manchmal kletterten wir von dort sogar weiter durch das Auto – bei einem Käfer gab es hinter der Rückenlehne noch einen schmalen Raum, in den sich zwei Kinder zwängen konnten. Niemand war angeschnallt, Sicherheitsgurte gab es in diesem Auto nicht. Und es störte sich auch niemand, wenn wir uns im Auto auf eigene Faust bewegten.
»Papa«, fing ich an. »Kannst du mir das mit dem Palmesel noch einmal erklären?«
Mein Vater blickte mich durch den Rückspiegel an und verdrehte die Augen. Ich nervte meine Eltern ständig mit unnötigen Fragereien. »Der Bub hört einfach nicht auf«, klagte meine Mutter bei solchen Gelegenheiten manchmal.
Immerhin gab mein Vater eine klare Antwort. »Wir hatten's doch heute morgen davon. Wer am Palmsonntag als letzter aus dem Bett kommt, der ist der Palmesel. Und das warst heute morgen eindeutig du.«
»Aber wieso ein Palmesel?« Ich ärgerte mich immer noch darüber, dass meine Schwester gewonnen hatte. Sie war an diesem Sonntagmorgen vor mir aus den Federn gekommen, ich hatte verloren und war danach ständig als »Palmesel« bezeichnet worden.
Mit einem tiefen Seufzer wandte sich mein Vater an meine Mutter. »Erklärst du's ihm?«, bat er. Er müsse sich auf den Verkehr konzentrieren.
Dabei war nicht viel los. Wir waren morgens in den Gottesdienst gegangen und direkt danach losgefahren. Damit waren wir zu einer Zeit auf der Straße, an der die meisten Württemberger gerade beim Mittagessen saßen und sich den Sonntagsbraten schmecken ließen. Auf den freute ich mich auch, und ich war sehr gespannt darauf, wie die Tante in Heilbronn ihn zubereitete. Streng genommen war es eine Tante meines Vaters.
Aber zuerst erzählte mir meine Mutter die Hintergründe, sie stotterte dabei, als müsste sie erst alle Gedanken sammeln: »Der Herr Jesus ist mit einem Esel nach Jerusalem geritten, und die Leute haben Palmblätter auf den Boden gestreut. Und der Esel, auf dem er geritten ist, war halt der Palmesel.«
»Aber was hat das mit dem Aufstehen zu tun?«, fragte ich nach. Für ein Kind war das schwer zu verstehen.
Sie gab mir keine Auskunft, zeigte lieber auf einen schönen Weinberg. »Ach, das wäre schön, da jetzt einen Spaziergang zu machen«, sagte sie erfreut. Damit war das Thema erledigt.
Wir erreichten unsere Tante, die mit ihrem Mann in einer Altbauwohnung im dritten Stock wohnte. Die beiden begrüßten uns mit großer Freude, sie schlossen meine Eltern in die Arme und knutschten uns Kinder ab.
Nachdem ich mich aus der Umarmung befreit hatte, kam ich mit der entscheidenden Frage um die Ecke: »Und wer von euch beiden war denn nun der Palmesel heute morgen?«
Die staunenden Gesichter der beiden alten Leute würde ich nie vergessen, ebenso die peinlich berührten Gesichter meiner Eltern. So eine Frage hatte man alten Leuten nicht zu stellen, das war unpassend. Aber der Besuch bei der Tante war trotzdem super, und sie wurde im Verlauf der Jahre meine Lieblingstante. Trotz Palmeselei.
Ich kenne das etwas anders: Das derjenige, der als letzter am Palmsonntag in die Kirche kommt, als Palmesel bezeichnet wird.
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