29 August 2019

Ein kleines Großdeutschland

Aus der Serie »Dorfgeschichten«

Ich bin zu Besuch bei meiner Tante, der älteren Schwester meiner Mutter. Wir spielen eines der beliebten Streichhölzerspiele: Man legt Streichhölzer in Muster, die man verschieben muss, um einen Effekt zu erzielen. »Dieses Häuflein Dreck muss auf die Schaufel, die wir aus Streichhölzern gelegt haben, aber du darfst nur ein Hölzchen verschieben.«

Die Spiele gefallen mir. Dann baut meine Tante ein neues Feld auf: ein großes Quadrat mit einer Kantenlänge von zwei Streichhölzern, in der Mitte ein Kreuz, im Prinzip also vier kleine Kästchen, die ein größeres Kästchen ergeben. Es ist ein sehr klassisches Muster.

»Das hier ist jetzt Deutschland«, erklärt sie mir. »Du musst vier Strichhölzer wegnehmen, dann entsteht Großdeutschland.«

Ich bin offenbar zu blöde, um die Aufgabe zu verstehen. Ungeduldig sieht sie mir zu, wie ich verwirrt auf die Strichhölzer starre. Wie kann etwas Großes entstehen, indem man etwas wegnimmt?, frage ich mich.

Die Tante zeigt es mir: Sie entnimmt jedem der kleinen Quadrate ein Streichholz. Danach liegt ein Hakenkreuz aus Streichhölzern vor uns auf dem Tisch.

»So«, sagt sie befriedigt, »das ist jetzt Großdeutschland.« (Die frühen 70er-Jahre waren schon seltsam, auch im Schwarzwald.)

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