Aus der Serie »Dorfgeschichten«
Das Motorrad röhrte durch den Weg, an dem wir wohnten; zwischen den Häusern ließ der Fahrer noch mal seinen Motor aufheulen. Es war Hochsommer, die meisten Menschen waren in ihren Gärten, und jeder bekam es mit. »Des isch der Seggele«, sagte meine Mutter, ohne auch nur einen Blick in Richtung Straße zu lenken.
Ich rannte sofort los, um selbst nachzuschauen. Auf dem Weg rollte ein Motorrad, eine schwere Maschine, eine Honda oder eine Suzuki – damals waren japanische Modelle der neueste Schrei, und die jungen Männer konnten sich das eher leisten als eine BMW oder eine englische Maschine.
Der Fahrer hatte offenbar beim Bauernhof gewendet und fuhr gerade zurück. Er trug eine kurze Hose und Badelatschen, sonst nichts. Kein Helm, keine Stiefel, keine Sicherheitsschuhe, keine Lederjacke – einfach nur eine kurze Hose oder sogar nur eine Badehose, so genau sah ich das nicht.
Er fuhr den Weg hoch, bog in die Hauptstraße ein. Es war wenig Verkehr, wie immer in jenen Jahren nach 1970, und ich hörte, wie er den Motor seines Fahrzeugs zwei-, dreimal aufjaulen ließ. Dann fuhr er weiter, wahrscheinlich nach Hause – er wohnte auf dem anderen Berg unseres Dorfes.
Ein »Seggel« oder »Seggl« ist im Schwäbischen ein Mann, der nicht unbedingt schlau ist. Es ist kein »Sembel«, der einfach nur ein Trottel ist, ein »Simpel«, wenn man es wörtlich übersetzen würde; ein »Seggel« muss nicht dumm sein, er hat die Weisheit aber sicher nicht gefuttert und benimmt sich gern auch mal daneben.
Und »Seggele«, an dessen richtigen Namen ich mich nach all den Jahrzehnten nicht mehr erinnere, dessen Wohnhaus ich aber noch im Dorf finden würde, war ein junger Mann, der sich mit 18 Jahren – wie so viele im Dorf – sein Motorrad gekauft hatte und damit für Furore sorgte. Die jungen Männer gründeten einen Motorradclub, sie trugen lange Haare und Bärte, und sie fuhren im Pulk durchs Dorf, natürlich ohne Helm und häufig ohne jegliche Schutzkleidung.
Aber damals hatten Autos noch keine Sicherheitsgurte, und wir Kinder turnten während der Fahrt vom Vorder- auf den Rücksitz und zurück, ohne dass unser Vater auch nur mit der Wimper zuckte. Es verging prompt kein Jahr, an dem nicht einer der jungen Motorradfahrer beerdigt wurde.
»Seggele« behielt seinen riskanten Fahrstil bei, sorgte im Dorf immer wieder für Furore und war in gewisser Weise mein Idol. So rotzig und frech wollte ich auch sein, wenn ich größer würde. Er überlebte alles, heiratete irgendwann ein Mädchen aus unserem Dorf und wurde wohl brav.
Ich verlor ihn aus den Augen, wie so vieles, als in den 80er-Jahren so Dinge wie Science Fiction, Comics und Punkrock wichtiger wurden. Was bleibt, ist ein Bild in meinem Kopf: ein junger Mann in kurzer Hose, mit Bart und langen Haaren und nacktem Oberkörper, der auf einem Motorrad durchs Dorf fuhr …
Hoi, Klaus.
AntwortenLöschenZeit vergeht ziemlich merkbar, je langer man/frau auf Eigenerlebtes zurückblicken kann. Gut geschriebene Gedankenmontage aus Erinnerungsbildern.
Motorrad & lange Haare - dorfintern wird wohl auch damals der "Untergang des christlichen Abendlandes" debattiert worden sein.
Fünf Jahrzehnte später hat sich manches Gedankengut nicht wirklich geändert.
"Seggel" kenne ich in meiner Gegend eigentlich nur als derbes Schimpfwort. Ein aussterbendes, zudem.
Zeit eben!
bonté
Ich dachte immer ein Seggl sei eine Art Schlitzohr.
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