Eine touristische Begebenheit im Schwarzwald
Die Welt ist ein seltsamer Ort. Und die Menschen, die man gelegentlich trifft, machen sie erst recht zu einem Territorium der Seltsamkeiten. Kommen Touristen in eine Region der Erde, die sie als ein bisschen zurückgeblieben betrachten, verhalten sie sich gerne ein bisschen »von oben herab«. Das gilt auch für die touristische Region Schwarzwald, aus der ich ursprünglich komme und in der ich die ersten zwei Dutzend Jahre meines Lebens und einiges darüber hinaus verbracht habe.
In einer Silvesternacht kam es zu einer Begebenheit in der Kleinstadt meiner Herkunft, die für einige Menschen das Leben verändern sollte. Für das Tier, um das es letztlich ging, war aber alles zu spät: Es war schon tot, als die Geschichte begann.
Das junge Paar kam aus einer größeren Stadt in Nordrhein-Westfalen. Ausgerechnet im beschaulichen Freudenstadt, der Stadt mit dem angeblich größten Marktplatz in Deutschland, verbrachte es seine Flitterwochen. Schöne Flitterwochen sollten es sein, im Winter und unter Tannen, auf dem romantischen Marktplatz und im wunderschönen Tannenwald, so richtig zum Gleich-noch-einmal-Verlieben. Man kann sich richtig vorstellen, in welch beschwingter Stimmung das junge Paar von West- nach Süddeutschland kam.
Das Paar bekam Appetit und ließ sich auf einen Restaurant-Tip ein. Ich hätte ihnen das Lokal sogar selbst empfohlen: Es war die »Alte Kanzlei« unweit des Marktplatzes, ein sehr rustikales Lokal, in dem man aber sehr gut essen konnte. Der Wirt, ein unglaublich dicker Mann, war das beste Beispiel für seine Küche. Wer es gut bürgerlich mochte, wer gerne Wild aß, wer gerne die schwäbische Küche ausprobierte und es gerne trotzdem mit ein bisschen Niveau wollte, der war in diesem Lokal am richtigen Ort.
Das Lokal genoss einen guten Ruf, und das zu Recht. Ein idealer Tip. Und das Hirschrückensteak, das sich das Paar aus dem Ruhrgebiet bestellte, klang wirklich nach einer erstklassigen Wahl.
Die beiden fanden das Essen gut; sie lobten es hinterher sogar, als sie bezahlten. Trotzdem passte ihnen etwas nicht. Und als keiner hinschaute, rochen sie besonders intensiv daran, fanden, dass es nicht richtig schmeckte, und ließen sich die Reste einpacken. Die wiederum schleppten sie in das Hotel, in dem sie offiziell abgestiegen waren, und präsentierten sie dort dem Küchenchef.
Und der Mann bestätigte den Verdacht, den das Paar geäußert hatte: Man hatte ihnen keinen Hirsch serviert, sondern schnödes Rindfleisch angedreht.
Panik! Herzattacke! Weltuntergang!
Zu der Zeit, so muss man berichten, war die BSE-Krise in aller Munde. Auch hartherzige Fleischfresser verzichteten in dieser Zeit auf den Konsum von Rindfleisch, weil sie keine Lust hatten, vom Rinderwahnsinn und seinen Folgen beeinträchtigt zu werden. Eine durchaus nachvollziehbare Reaktion – man hätte allerdings der Einfachheit halber gleich Vegetarier werden können, und alles wäre viel einfacher gewesen.
So auch die Dame in unserer kleinen Geschichte. Aufgrund der BSE-Krise aß sie nämlich kein Rindfleisch mehr, nur noch Wild. Das war zwar unwesentlich teurer, aber das stört ja wohlhabende Touristen aus dem Ruhrgebiet nicht so richtig.
Die arme Frau litt auch prompt unter den Folgen des falschen Hirschbratens: Sie musste sich mehrfach übergeben, ihr Mann alarmierte die Polizei, die anscheinend nichts anders zu tun hatte und tatsächlich die Ermittlungen aufnahm.
Jetzt wurde die Provinzposse richtig lustig. Es gab am bewussten Abend, so fand die Polizei heraus, nämlich gar kein Rindfleisch auf der Karte. Eine Vertauschung von Rind und Hirsch sei also gar nicht möglich gewesen.
Seltsame Angelegenheit. Aussage stand gegen Aussage.
Und dann schaltete sich der Wirtschaftskontrolldienst der Polizei ein. So einfach sollte der Fall nicht gelöst werden ... Reste des umstrittenen Gerichtes wurden tatsächlich nach Karlsruhe geschickt, um dort von Nahrungsmittelchemikern des Chemischen Veterniär-Untersuchungsamtes genauer unter die Lupe genommen zu werden. Als dieses Amt nicht hundertprozentig zu einer Lösung des Falls kam, schaltete sich auch noch das Chemische Veterinär-Untersuchungsamt in Freiburg ein. Grund: Man wollte eine DNA-Analyse vornehmen, um die Essensreste hundertprozentig genau unterstützen zu können.
Das kostete richtig viel Geld – und das alles nur deshalb, weil ein Ehepaar aus Nordrhein-Westfalen in seinem Urlaub unbedingt einen Hirsch futtern wollte ...
Der Wirt drehte in den ersten Tagen des Januars 2001 fast durch. Kein Wunder, die Gerüchte konnten seinem ohnehin nicht richtig gut gehenden Gasthaus das Genick brechen. Seine Argumentation war: »Ich stand an diesem Abend selbst am Herd, und ich kann jederzeit nachweisen, dass ich im Großmarkt etwa acht Kilo Hirschkalbsrücken gekauft habe.« Besonders hübsch war allerdings sein wichtigstes Argument: »Ich würde meine Gäste doch nie betrügen.«
Immerhin räumte er ein, dass die schöne Geschichte, am bewussten Abend habe es kein Rindfleisch gegeben, nicht stimme: Die Polizei hatte die Speisekarte nicht richtig lesen können, so scheint es, denn an diesem Abend standen zwei verschiedene Rindfleischgerichte auf der Karte. Nun ja, dass die Polizei aus Analphabeten besteht, hat mancher schon vermutet; das Ausmaß des Schreckens scheint aber doch verwunderlich zu sein.
Es dauerte alles seine Zeit, doch irgendwann kam der Befund, der offizielle, bestätigt durch einen Polizeioberrat. Es sei in der Tat kein Rindfleisch serviert worden; wobei er nach wie vor nicht sagen konnte, welches Fleisch denn nun die freundlichen Urlauber verzehrt hatten. Und während der Ruf des Wirtes weiterhin seinen Schaden nahm, weil buchstäblich im ganzen Land über den Rinderhirsch aus der Schwarzwaldstadt diskutiert wurde, zogen sich die weiteren Ermittlungen hin ...
Der Freudenstädter Hotelier erhob nun Anklage gegen die Gäste aus Nordrhein-Westfalen. Klar … Und er korrespondierte ganz nebenbei mit dem Chef des anderen Hotels nur noch über Rechtsanwälte. Die Provinzposse weitete sich immer mehr aus, bald ging es nicht mehr nur noch um den Wirt und seine Gäste, sondern es ging auch um Veterinäre, den Wirtschaftskontrolldienst, verschiedene Polizeistationen und diverse Rechtsanwälte, von den Journalisten landauf, landab, die über den Unfug schrieben, einmal ganz zu schweigen.
Und das End' vom Lied: Der dicke Wirt musste seine »Alte Kanzlei« schließen, weil ihm die Gerüchteküche das Genick brach. Die Gäste von außerhalb blieben aus, Geschäftsessen wurden in andere gastronomische Einrichtungen verlegt, und die Einheimischen guckten als gute Schwaben ohnehin stets aufs Geld und gingen der Einfachheit halber lieber in ein preiswertes Gasthaus um die Ecke, in dem es dieselbe Art von Gerichten für fünf Mark weniger gab.
So hatte der Rinderhirsch doch noch ein Ende genommen, wenngleich kein gutes. Was aus den Anzeigen des Wirtes gegen die jeweils anderen Beteiligten wurde, ist übrigens nicht bekannt, genauso, was aus ihm selbst wurde. Aus der gastronomischen Landschaft meiner Ex-Heimatstadt ist der Mann, der doch eigentlich nicht zu übersehen war, auf jeden Fall verschwunden …
(Der Text wurde im Sommer 2003 geschrieben und Ende 2003 in der Ausgabe 40 meines Fanzines ENPUNKT veröffentlicht. Ich finde, das kann ich hier locker mal dokumentieren.)
Sali, Klaus.
AntwortenLöschenHirsch weist jetzt eher die Eigenart eines sehr seltsamen Eigengeschmacks auf; besagter (falscher) Braten ließe sich gleich beim ersten Biss riechen.
Ironie anbei, nach dem Glykol-Skandal hätte man/frau, der Einfachheit halber, auch zum reinen Wassertrinker werden können... :-)
Den Salat übrigens habe ich, zehn Jahre später (anno Ehec), definitiv nicht gemieden.
bonté
Lustig und traurig zugleich. Einen ähnlichen Vorfall aus dieser Zeit kenne ich auch. Gar nicht mal weit weg von Freudenstadt. Es ging um Reh und Känguru. Der Skandal ist aber glücklicherweise nicht über die Dorfgrenze hinaus geschwappt.
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