Ich wuchs mit Geschichten vom Krieg auf – das war normal bei uns im Dorf. Die Väter waren zumeist Soldaten gewesen, oder es gab andere Verwandte in der Familie, die an der Ostfront gekämpft hatten. Ich hörte von Verwandten, die »bei de Franzose« verhungert waren oder sich in Stalingrad erschossen hatten; ich hörte von den schrecklichen Tagen, in denen Freudenstadt niedergebrannt worden war. Aber ich hörte nie von Anton Reinhardt.
Bis vor kurzem war mir der Name nicht bekannt. Der Jugendliche wurde in Weiden geboren, einem Dorf bei Dornhan; rund 23 Kilometer von dem Dorf entfernt, in dem ich geboren worden war. Das war 1927. Er wurde in Rippoldsau erschossen, das ist zwanzig Kilometer von meinem Heimatdorf entfernt. Das war 1945.
Er galt als »Zigeuner«, wurde in der Nazi-Zeit entsprechend diskriminiert und hätte 1944 sterilisiert werden sollen. Er flüchtete quer durch den Schwarzwald bis zur Grenze; in der Schweiz suchte er Zuflucht. Er schaffte es sogar, den Rhein zu durchschwimmen.
Die Behörden in der Schweiz verhafteten ihn, schoben ihn wieder nach Deutschland ab. Er kam in Lagerhaft, saß zuletzt in Gaggenau ein; rund 65 Kilometer von meinem Heimatdorf, nur wenige Kilometer von meinem Arbeitsplatz entfernt.
Wieder konnte er flüchten. Er wurde in der Nähe von Bad Rippoldsau von einer Einheit des sogenannten Volkssturms festgenommen, von einem Standgericht zu Tode verurteilt und am Karsamstag – 31. März 1945 – im Wald erschossen.
Zwei Wochen später erreichten französische Truppen die Region, am 16. April brannte Freudenstadt. Es war das einschneidende Erlebnis für die Generation meiner Eltern, die teilweise noch in den 80er-Jahren vom »Umsturz« sprachen, wenn sie das Kriegsende meinten.
Die Mörder wurden 1959 wegen »Totschlag« verurteilt, saßen aber nur kurz im Gefängnis. Heute erinnert immerhin ein Gedenkstein an Anton Reinhardt. Mir hat man von ihm nie erzählt. Man hatte andere Probleme, man sah sich selbst als Opfer. Menschen wie Anton Reinhardt gab es auch nicht im Geschichtsunterricht – die Nazis waren etwas, das sich in Berlin abspielte oder im Krieg, nicht aber in der eigentlichen Heimat, im schönen Schwarzwald.
Auch wenn do ein 'Tod kurz vor dem Ende' dramaturgisch interessant ist, es hat auch immer die Gefahr, dass man die vielen die bereits beim ersten 'Einfangen', Jahre vorher, erschossen wurden vergisst.
AntwortenLöschenWobei, das eigentlich Interessante ist die Behandlung der Taeter. Als jemand der erst lange nach dem Krieg geboren wurde frag ich mich immer wieder, wie es gelingen kann (und eingermassen gelungen ist) aus so einem umfassenden Terrorsystem wieder herauszufinden. Mit dem heute vorherschenden Drang nach absoluter Gerechtigkeit und strengster Bestrafung kann das nicht funktionieren. Dann waehre ganz Deutschland fuer 30+ Jahre hinter gittern gelandet, und wir haetten die Gastarbeiter schon fueher gebraucht - als Gefaengnisswaerter. So sehr das durchschummeln und der regelrechte Gesetzesbruch von Seilschaften in Amtsstuben dafuer gesorgt hat dass viele davongekommen sind, ach was, sogar Karriere bis zum Ministerpraesidenten machen konnten, genau so sehr ist es, glaube ich, Teil des Erfolges. Wenn man aus so einem Absoluten System raus will braucht es Augenmass bei der Verfolgung dessen was geschehen ist. Und der Fakt, dass die Taeter bestraft werden, wenn auch nur fuer die offensichtlichsten Faelle, ist wesentlich wichtiger, als die Laenge der Strafe. Irgendwo da liegt der Grad der zu gehen ist. Und dass dauerhaft.
Kein einfaches Thema.